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Sonntag, 01.07.2012 | von: mw

10. Graubündenmarathon am 23.06.2012

ich war das sechste Mal dabei; ich sitze im Ersatz ICE von Basel nach Berlin, habe ein zuggebundenes Ticket erster Klasse (2. Klasse war eine Stunde nach Freigabe nicht mehr zu haben und der Preis entsprach dem Fahrpreis für das BahnCard Ticket in der 2. Klasse). Es ist wirklich nur ein Ersatzzug und in der Ausführung nur ein EC oder IC; er rattert, schaukelt und ist sehr laut und außerdem noch verspätet. Von wegen vornehm reisen. Eben kommt die Durchsage: „Anschlusszüge können leider nicht warten, bitte haben Sie Verständnis.“

Marathon im hochalpinen Gelände: Wichtigste Frage: Was ist mit dem Wetter? Hoffentlich kein Regen, Wind, Sonne, wie kalt wird es? Was muss ich anziehen und was muss ich mitnehmen und wo verstaue ich diese Dinge, wenn ich keinen Rucksack tragen will? Jedes Jahr dieselben Fragen und Bedenken. Wettermäßig gab es in den vergangenen 9 Jahren ja schon alles: Abbruch wegen Berggewitter 2005; alle Läufer die sich noch auf der Strecke befanden wurden in offene kleine LKWs geladen und zur Zwischenstation gebracht. Letztes Jahr war ich trotz Handschuh, Mütze und Windjacke so unterkühlt, dass sich nach Zieleinlauf Arzt und 2 Masseusen um mein „Auftauen“ bemühten. Wie wird es in diesem Jahr sein?

Alle Bedenken waren umsonst. Das Wetter war gut wie selten. Es gab weder Wind noch viel Sonne, noch war es irgendwie kalt. Einfach ideal, auch noch ganz oben auf dem Berg.
Am Donnerstag, 21.06.2012 fuhr ich einen ganzen Tag lang mit der Bahn bis Chur und von dort noch mit dem Postbus bis Lenzerheide. Das Ticket dazu spendierte der Lauf (leider nur bis zum 24.6.). Unterkunft fand ich in der Jugendherberge Valbella – kann ich allen, die diesen Lauf auch einmal erleben und durchstehen möchten nur empfehlen. Nicht nur die Lage der Herberge ist günstig zum Lauf, sondern auch Ausstattung, Preis und das
Essenangebot. Information liefert das Internet. Startunterlagen gab es in Lenzerheide, ein neues Nachtgewand in blau war auch wieder dabei. Für mich immer wieder unverständlich, dass es T-Shirts nur in Uni-sex gibt und damit auch die „S“ für undicke Leute zu groß ist.

Auf Fehmarn und beim Segeberger Forst Marathon machte es mir schon große Mühe meine Hufe bis zur Ziellinie zu bewegen und jetzt musste ich sie überreden auf diese Bergspitze zu laufen. Kurzum, ich hatte gewaltigen Respekt vor der erneuten Herausforderung, obwohl ich wusste, was mich erwartete und obwohl ich es schon fünf Mal überlebt hatte.

Von unserem Club waren nur Thomas Schmidtkonz, Joachim Kortyka mit Tochter Sara und Hajo außer mir am Start und auch im Ziel. Hajo lief seine Gutschrift vom letzten Jahr ab und konnte mir noch auf der Startlinie sagen, dass Lenzerheide bis 14:00 Uhr erreicht sein muss, also in 4:45:00, da der Start 9:15 erfolgt. 15 Minuten eher als in den vergangenen Jahren, was für ein Stress, ich wollte es nicht glauben. Der Ausschreibung hatte ich dies nicht entnommen, wer richtig lesen kann ist zweifelsfrei im Vorteil.

Start ist in Chur, ca. 600 m ü. M. (der Postbus bringt die Teilnehmer dorthin) und das Ziel ist auf dem Parpaner Rothorn, 2865 m ü. M. Abwärts geht es nach dem Zieleinlauf mit der Bergbahn. Lockt die kostenlose Talfahrt? Ich wollte diese Herausforderung meistern und alle um mich herum auch.

Start- und schon bin ich am Ende des Feldes. Auch auf den ersten drei Kilometern aus Chur heraus konnte ich keine Zeit gewinnen. Ich sah Hajo aus meinem Blickfeld entschwinden, dafür kam Thomas von hinten an mich heran. Wir liefen eine Zeit zusammen, bis er am ersten steilen Anstieg nach vorne verschwand. Dafür kassierte ich zwei Damen am Berg, aber dabei blieb es vorläufig. Vor mir freie Bahn, doch hinter mir bewegte sich ein „Stockläufer“ und trotz Waldweg hörte ich den Stockeinsatz näher kommen. Der sollte nicht an mir vorbei gehen; nach Kilometer 13 war das Geräusch nicht mehr zu hören. Von Kilometer drei bis Kilometer 17 geht es ununterbrochen aufwärts bis auf 1800 Höhenmeter. Dann folgt ein Abstieg bis auf 1400 Höhenmeter zu Kilometer 23, um in Lenzerheide bei Kilometer 30,5 wieder auf 1500 Höhenmeter anzukommen. Die restlichen Höhenmeter bis zu 2865 sind auf den restlichen 11,5 Kilometern zu meistern. Kurzum: der Marathon beschert uns 2682 positive Höhenmeter und erleichtert das Steigen durch minus 402 Höhenmeter. Ständig rechnete ich unterwegs. Kilometer 13 erreichte ich nach 2 Stunden und sofort wurde auf Kilometer 26 geschlossen. Wenn ich das Tempo halten kann (es geht ja auch noch 3 Kilometer bergab), dann, ja dann ist es zu schaffen. Immer, wenn der Blick frei war, sah ich ein gelbes Shirt mit schwarzen Hosen vor mir. Es gab also doch noch langsame Läufer.

Nach der bergab Passage hatte ich mich an - es war eine Dame – herangearbeitet. Sie wurde gerade von ihrer Betreuerin versorgt (gab es also auch) und spurtete los. Im Nu war sie weg, nicht mehr zu sehen und das bei jetzt sehr wurzeliger Wegeinlage. Wie kann das sein, wohin war sie entschwunden? Endlich hatte ich einen sichtbaren Vordermann und schon war er wieder weg. Ich kam aus dem Waldstück da sah ich sie ca. 300 Meter vor mir auf die Strasse laufen. Donnerwetter! Wirklich hurtig. Das war bei Kilometer 25; ich sprang hinterher (in der Schweiz wird gesprungen und nicht gerannt); ein wenig bergab bis zum See und da hatte ich sie wieder und auch Thomas lief dort noch herum. Mein Zeitplan - Kilometer 26 in 4 Stunden – ging auf. Jetzt ging es noch um den See, an der Talstation der Bergbahn vorbei und im angrenzenden Waldstück war dann bei 4:30 Stunden Kilometer 30 erreicht. Aber es ging immer noch oder schon wieder bergauf und für die letzten Meter bis zur Matte brauchte ich noch vier Minuten. Zusammen mit Thomas und der Dame in Gelb konnte ich dann sechs Minuten vor Zielschluss in Lenzerheide über die Matte spurten.

Nun begann der „gemütliche Teil“ der Strecke, denn ab hier rannte ich so gut wie gar nicht mehr. Es bot sich auch nicht an. Vorsicht war aller Orten geboten, denn die Wurzeln und Steine bis zur Mittelstation der Bergbahn auf 1900 Meter sind einmalig. Dagegen ist der Rennsteig eine Autobahn und die paar Anstiege dort sind nicht mehr als kleine Erdhügel. Mehr als drei Stunden wollte ich für den Aufstieg bis zum Gipfel – für 1500 Höhenmeter auf 11,5 Kilometern, davon 200 Höhenmeter auf dem letzten Kilometer, nicht benötigen. Meine Zeit von sechs Stunden bei Kilometer 36 lies mich auf eine Endzeit unter 8 Stunden hoffen. Diese Hoffnung zerschlug sich fast beim mühevollen Aufstieg zu Kilometer 37. Trotz scharfen Gehens dauerte es 22 Minuten um dort anzukommen. Ade, angedachtes Finish. Aber es blieben immer noch 5 Kilometer, bei denen vielleicht etwas gut zu machen war. Über mir sah ich die Höhe und einen Teil der Wege die ich noch laufen musste. Auch etwas „Gelbes“, schon ziemlich weit oben konnte ich ausmachen. Das muss Hajo sein, und die Endzeiten bestätigten meine Vermutung. Immer weiter, die Wege waren breit und das Geröll und die Steine und andere Unwegsamkeiten hielten sich in Grenzen. Überhaupt waren diese Wege in einem besseren Zustand als in den vergangenen Jahren. Die Höhenmeter waren natürlich geblieben. Es gab Schneefelder rechts und links vom Weg, aber sie verdeutlichten nur die Höhe, auf der ich mich schon befand. Uhrenvergleich bei Kilometer 40: Sieben Stunden und 10 Minuten. Noch Hoffnung, aber knapp. Für den letzten Kilometer hatte der Veranstalter 35 Minuten vorgesehen und Kilometer 41 war auch nicht ohne. Überhaupt, jetzt konnte ich die Bergbahnstation und damit das Ziel sehen. So hoch sollte ich in der verbleibenden Zeit noch laufen. Nicht wirklich denkbar! Kopf runter und nicht nach oben sehen. Ankommen, nur diese Höhe noch bewältigen. Kilometer 41: das Almhorn wurde geblasen; es hieß mich willkommen; Zwei junge Burschen von der Bergwacht saßen auf ihrem Rettungsmotorrad und konnten jede meiner langsamen Bewegungen beobachten. Ich fragte sie, ob es ihnen gut geht? Und sie antworteten mit der gleichen Frage. Meine Antwort mit letzter Luft: „ Gleich, gleich geht es mir wieder gut“. Ich wollte die Sieben vor meiner Zielzeit haben. Jetzt, so kurz vor Ende der Anstrengung sollte es doch möglich sein, noch einen Zahn zuzulegen. Ja, ich wollte, aber es ging nicht. Nicht die Beine und die Muskeln konnten nicht mehr, auch kein Krampf wie bei sonstigen Rennen üblich, plagte mich, sondern die Luft, die Luft blieb nicht aus, wurde aber weniger. Die Atemzüge wurden tiefer und mühevoller.

Ein Würgen im Hals lies mich an einen Luftröhrenkrampf denken (gibt es das) und daran, dass ich vor Jahren gegen Asthma behandelt wurde. Nur das jetzt nicht, nicht stehen bleiben und nicht versuchen doch schneller zu werden. Ich hörte die Zielansage und sah einen Läufer vor mir in der Kurve verschwinden. Da kam das Schild mit „noch 500 Meter“. Fast geschafft! Aber wie lang sind 500 Meter so kurz vor dem Ziel? Ein Blick nach oben. Die Bergstation war direkt über mir, aber so weit oben. Noch bis dahin und diese Höhe in nur 500 Metern ersteigen. Vorwärts, vorwärts. Rum um die Kurve und da stand: „Noch 200 Meter.“ Ein Blick auf die Uhr: sieben Stunden und fünfzig Minuten waren vorbei. Das kannst du schaffen, nur noch 200 Meter und noch 10 Minuten bis zur vollen Stunde. Weiter, neue Kurve, „noch 100 Meter“, Hoffnung, Hoffnung und Hufe schwingen; vielleicht ein Wunder, es ist zu schaffen.

Da rief jemand „super Sigrid“, ein große Felsenplatte war noch zu nehmen und dann fünf Meter bergab und dann „Piep, Piep, Piep.

Ich war da, die Ansage 7:54 und vierte in der W60 machten mich glücklich und belohnten all die Mühe. Den Tränen nahe lies ich mich von all den Wartenden umarmen. Thomas war da, Hajo, Joachim, Sara - die in diesem Jahr das Zeitlimit in Lenzerheide nicht meistern konnte und dafür in dem 20 Meilen Wettbewerb gewertet wurde. In den vergangenen Jahren hatte man uns fünf Stunden für Lenzerheide gegönnt. Warum jetzt weniger? Sarah ist 21 Jahre alt, Studentin und hat 35 M und U schon erfolgreich bewältigt. Darunter den Röntgenlauf, Zermat, natürlich den Ultra, Biel und andere.

Die Bergbahn brachte uns ins Tal und Joachim fuhr uns zum Duschen – er hatte sein Auto in weiser Voraussicht an der Bergbahn geparkt, denn der Schuttelbus fuhr nur bis 17 Uhr. Auf unseren Wertbon gab es Bratwurst statt Nudeln und in Gesprächen leckten wir ausgiebig unsere Wunden.

Das Wetter war super und am folgenden Tag wanderten wir Joachim, Sara und ich – Jugendherbergsbewohner- zur Bergbahn zum Scalotta (2300 ü. M.), Ziel des Graubünden Marathons 2010, als die Rothornbahn modernisiert wurde. Am Nachmittag fuhren Joachim und Sara nach Hause und ich bei strömenden Regen am Montag morgen. Damit bin ich wieder am Anfang meiner Geschichte angelangt. Übrigens bei der Anreise am Donnerstag regnete es auch und auch noch die ganze Nacht zum Freitag.

Ein kleines Nachwort: Ich schreibe ab aus der Graubünden Marathonzeitung.
„Mit letzter Energie erreichen viele Läuferinnen und Läufer das Ziel auf dem 2865 Meter hohen Parpaner Rothorn. Bei der Zielüberschreitung widerspiegeln viele Gesichtszüge zwei verschiedene Gefühlswelten. Einerseits sind die Anstrengungen der 42,195 Kilometer jedem Gesichtsmuskel anzusehen, andererseits ist da dieses Strahlen in den Augen, das sich schnell auf das ganze Gesicht ausbreitet – denn jeder Ankömmling hat eine gewaltige Leistung vollbracht, für die er mit Glücksgefühlen belohnt wird."

Für mich: Ein ständiger Kampf um Meter und Sekunden, ein ständiges Rechnen mit den Kilometern und Zeiten, eine „Buschzeit“ hätte mich die 7 gekostet. Stress pur, aber nur für mich. Wer schneller unterwegs ist, kann diesen Lauf ganz anders genießen und empfindet ihn entspannter, oder eben anders.
Dass Jonathan Wyatt aus Neuseeland hier 2004 3:18:11 und Jasmin Nunige aus Davos 2005 4:21:22 lief, kann ich mir angesichts meiner Möglichkeiten nicht vorstellen.

Trotzdem: im Nachhinein möchte ich das Erlebnis nicht missen und vielleicht gibt es ja eine Wiederholung. Möglicherweise mit einigen Clubmitgliedern als Clubreise?

Euch allen einen schönen Sommer und Allzeit schnelle Hufe wünscht

der Sturmvogel.


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1 Kommentar

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Nr. 1   Gunla Eberle schrieb am 03.07.2012 - 07:30 email

Liebe Sigrid,

dein Bericht ist so spannend, dass man gerne mehr solche Berichte von dir lesen möchte. Schreibe doch ein Buch. Ich würde auf jeden Fall das Buch kaufen! Herzlichen Glückwunsch und Hut ab zu dieser Laufleistung!

Gunla