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Montag, 25.10.2004 | von: mw

Le Grand Raid - „Die Diagonale der Verrückten“

Nachdem ich zusammen mit Bernhard den „Marathon des Sables“ in Marokko überstanden hatte, kam uns die Idee zur Teilnahme am Grand Raid de la Reunion. Hier gilt es, 140 km am Stück mit 8.100 Höhenmetern in 60 Stunden zu überwinden. Es klingt so interessant, dass sich auch Peter, Dirk, Torsten und Franz von der Idee begeistern lassen. Schon ein Jahr im voraus beginne ich Material zu sammeln und telefoniere mit Bernhard Sesterheim, der sowohl mit uns in Marokko war, als auch im letzten Jahr auf Reunion und es gerade so im Zeitlimit geschafft hat. Er beschreibt den Marathon des Sables als sonntäglichen Kaffeetantenausflug im Vergleich zum Grand Raid. Das sind ja gute Aussichten! Aber je mehr ich über Reunion lese, desto interessanter wird die Sache. Auf der Touristikmesse CBR im Februar in München hole ich mir einen ganzen Stapel Prospekte über diese Insel. Sehr beeindruckend! La Reunion ist eine Vulkaninsel im indischen Ozean 800 km östlich von Madagaskar und 200 km südwestlich von Mauritius gelegen und seit 1946 ein französisches Überseedepartement. Über 10.000 km von zu Hause entfernt und nach 11 Stunden Flugzeit ab Paris, übrigens ein Inlandflug, kann man hier mit dem Euro bezahlen. Die Insel zählt ca.750.000 Einwohner, die überwiegend an der 207 km langen Küste wohnen, da das Landesinnere aus hohen Bergen mit zum Teil aktiven Vulkanen und gewaltigen, tiefeingeschnittenen Tälern besteht. Diese Berge und Täler gilt es schließlich zu überwinden, der Grand Raid heißt sicherlich nicht zu Unrecht die „Diagonale der Verrückten“. Anfang April treffen wir uns erstmals zu einer Besprechung, um festzulegen, wann wir fliegen und wo wir übernachten wollen. Wir werden in 2 Gruppen reisen, zunächst die Familien Weidemann, Kracht und Bethge und dann eine Woche später Dirk, Peter, Franz und Harald. Im Internet werde ich auf die Internetseite www.indischerozean.de von Frau Schumacher aufmerksam. Über sie buchen wir die Flüge, Mietwagen und die Unterkunft. Nun gibt es kein zurück mehr! Am 24. April laufe ich zusammen mit Dirk und Peter die 51 km lange Harzüberquerung mit, ein schöner, hügeliger Landschaftslauf, den wir alle gut und ohne Probleme überstehen. Bernhard ist zu diesem Zeitpunkt noch am Fuß verletzt und Torsten hat leider keine Zeit. Mit ihm laufe ich dann aber eine Woche später den Düsseldorf Marathon mit. Bei idealem trockenem Laufwetter laufen wir gemeinsam nach 3:27 h über die Ziellinie am Rheinufer. Es stehen noch weitere Marathons auf dem Programm, nämlich in Hasede, natürlich Stüde, Omsk, Usedom und Gardelegen. Dirk und Peter bestreiten den Ultralauf über 80 km um den Müritzsee. Ende August wird dann auch der gesamte Reisepreis überwiesen. Harald springt kurzfristig, wegen Urlaubsproblemen mit seinem neuen Arbeitgeber, ab. Jeder sieht nun zu, dass er die richtigen Schuhe kauft, den richtigen Rucksack und Lampen. Zwei Wochen vor Abflug bekommen wir vom Veranstalter unsere Startbestätigung und Informationen zum Lauf. Der Lauf wurde auf 140 km verlängert, eine Steilwand herausgenommen aber trotzdem sind nach wie vor 8.100 Höhenmeter zu überwinden. Ebenfalls wurde das Zeitlimit von 60 Stunden beibehalten. Während die anderen ordentliche Trainingseinheiten im Harz laufen, plage ich mich mit einer Grippe herum. Eine Woche vor unserem Abflug treffen wir uns noch einmal zu einer letzten Besprechung, wo sich jeder einen Einkaufszettel für Lebensmittel schreibt, denn Lebensmittel sollen recht teuer auf Reunion sein und so werden wir einiges mitnehmen. Einen Tag vor unserem Abflug, laufen Torsten und ich noch schnell den Brocken Marathon im Harz, hier gilt es lächerliche 1.000 Höhenmetern zu überwinden. Bei tollem Wetter läuft es ganz gut für uns, und wir kommen nach 4:05 h ins Ziel in Wernigerode an. Das war nun die letzte Bewährungsprobe für den Grand Raid und wir müssen nun auch nach Hause, um unsere Koffer zu packen. Denn am nächsten Tag, am Sonntag den 10. Oktober ist es dann endlich soweit. Mittags treffen wir uns, das heißt die erste Truppe, bestehend aus Bernhard, Marion, Birte, Torsten, Heike und wir. In Hannover besteigen wir eine kleine, voll gepackte Maschine der Air France und fliegen zunächst nach Paris. In Paris müssen wir den Flughafen wechseln und es ist gut, dass wir 5 Stunden Zeit haben. Am Charles de Gaule Airport müssen wir wieder unser ganzes Gepäck in Empfang nehmen, eine halbe Stunde auf den Shuttle Bus warten, der dann fast anderthalb Stunden zum Orly Airport braucht. Es ist ein irrer Verkehr an diesem Sonntagnachmittag in Paris Nach dem einchecken und den Sicherheitskontrollen brauchen wir nicht mehr lange zu warten, um unseren Jumbo nach St. Denis/ Reunion zu besteigen. Die Maschine scheint bis auf den letzten Platz besetzt zu sein. Es ist ziemlich eng auf den Sitzen und das Essen kann man auch nicht gerade als Gourmet Mahl bezeichnen. Am besten schmecken noch der Rotwein und der Käse. Mit verbogenen Beinen schlafen wir einige Stunden, bevor es Frühstück über dem indischen Ozean gibt. Nach fast 11 Stunden landen wir auf dem Roland Garros Airport in St. Denis. Wir übernehmen zwei fast neue Renaults Symbol und kriegen unser üppiges Gepäck gerade so im Kofferraum unter. In St. Denis stehen wir erst einmal im Stau, man hat den Eindruck, dass alle 750.000 Einwohner gleichzeitig mit dem Auto unterwegs sind. Entlang der Westküste fahren wir Richtung Süden und machen in St. Leu am Strand Mittagspause. Es gibt riesige Hot Dog’s und eiskaltes Dodo Bier, was recht gut schmeckt. Oberhalb von St. Leu wohnen wir in der Bungalow Anlage „Austral Passion“. Wir befinden uns ca. 3 km Luftlinie vom Ozean entfernt am Berghang in 350 m Höhe, mit wunderschönem Blick aufs unendliche Meer. Willy, der Vermieter, überreicht uns die Schlüssel, und nachdem wir uns eingerichtet haben, wird gegrillt. Der große U Supermarkt hält alles bereit, was das Herz begehrt, nur etwas teurer als in Deutschland. Der erste Morgen auf Reunion empfängt uns schön sonnig und warm. Wir machen unseren ersten Lauf durch die Zuckerrohrfelder. Es ist früh morgens schon wieder ein ziemlicher Verkehr, selbst auf den abgelegenen Straßen. Das Laufen bergauf fällt nach den gestrigen Dodo Bieren etwas schwer, dafür schmeckt das anschließende Frühstück draußen vor dem Bungalow umso besser. Unser erster Inselausflug geht nach Süden, zu den Wasserfällen Grand Galet. Wir klettern unterhalb der Fälle, die aus den Felsen wie aus Rohren spritzen, herum und schießen einige spektakuläre Fotos. Am Flussufer ist Picknick angesagt, wir holen uns das inseltypische „Cary“, ein Reisgericht mit verschiedensten Zutaten. Wir wählen, so gut es geht mit unseren Sprachkenntnissen, Hühnchen, Schwein und Tintenfisch. Alles ist sehr schmackhaft, lecker und scharf. Nun geht es erstmals an den Strand bei Grand Anse. Herrliche hohe Wellen laden uns zum schwimmen ein. Ich trete zum Auftakt erst einmal in einen Seeigel und Erika operiert den langen, schwarzen Stachel mit einem Taschenmesser heraus. Die hohen Wellen werden uns fast zum Verhängnis, denn es herrscht eine unglaubliche Gegenströmung, die einem die Rückkehr an den Strand fast unmöglich macht. Gott sei Dank beobachten uns 2 Surfer. Die beiden holen Birte und Bernhard aus den Wellen zurück an Land. Bernhard wäre mit eigener Kraft allein kaum zurückgekommen. Ich kann zusammen mit Nick am Arm allein rauskommen, Nick’s Flossen fallen jedoch dem Meer zum Opfer. Ab sofort werden wir den Wellen sicherlich mit größerem Respekt begegnen, wir haben uns so richtig als dumme, nichts ahnende Touristen geoutet. Gegenüber unserer Pension gibt es einen Bretterverschlag, es ist das „Restaurant“ von Marie. Der Tisch besteht aus einer alten Kabeltrommel, die Wände sind mit Bretterresten verkleidet und die verlausten Hunde sind ganz wild auf Nick’s Socken. Aber die Chefin Marie zaubert uns ein vorzügliches, einheimisches Abendessen. Es gibt gefüllte Teigtaschen, Kartoffelbällchen, Krabben und Hühnchen Cary, Salat, Reis, Bohnen und einen leckeren Bananenkuchen. Alles etwas primitiv, jedoch sehr gut. Vor allem der Preis, 40,-€ für alles inklusive aller Getränke. Beim nächsten Mal werden wir uns die Speisen allerdings ins Haus liefern lassen und auf unserer gemütlichen Terrasse essen. Der nächste Tag empfängt uns sehr bewölkt, aber wir lassen uns nicht abschrecken und fahren trotzdem in die Berge. Wir wählen die schmalen, weißen Straßen auf der Landkarte aus, die aber Widererwarten recht gut sind. Wir fahren durch tropischen Regenwald, vorbei an riesigen Farnen, Bäumen und Büschen, die es bei uns nur in klein als Zimmerpflanzen gibt. Wir wandern ein ganzes Stück durch diesen Wald, auf glitschigen, wurzeligen Wegen. Das gibt uns den ersten Eindruck auf das, was uns in einer Woche beim Grand Raid erwartet. Bernhard stellt fest, dass wir dann die hundertvierzigfache Strecke laufen müssen. Was für ein Gedanke! Wir fahren hinauf bis auf 2.200 m bis zum Übersichtspunkt, Le Maido. Sehr positiv fallen uns die vielen, gepflegten Picknick- und Grillplätze auf, die auch jetzt mitten in der Woche gut besucht sind. Wir beobachten Einheimische, die schon morgens um zehn Uhr ein Huhn schlachten und alles für das Mittagessen vorbereiten. Die Leute haben hier die Ruhe weg, nichts erinnert an Hektik. Vom Übersichtspunkt soll man normalerweise einen super Überblick auf den Mafate Talkessel haben, aber jetzt ist leider alles voller Nebel und wir können nur erahnen, wie tief es hinunter geht. Der Mafate Talkessel ist einer von 3 Talkesseln, die um den Piton des Neiges angeordnet sind. In die Talkessel kommt man nur zu Fuß oder mit dem Helikopter, es führen keine Straßen hinein. Hier oben in dieser Mondlandschaft machen wir Picknick mit unserer deutschen Salami, Käse und Baguette , es ist herrlich! Als wir wieder runterfahren zur Küste, regnet es fast ununterbrochen. Unten angekommen, wieder der herrlichste Sonnenschein, so dass wir den nächsten Strand ausprobieren können, den Boucan Canot Beach. Auch hier wieder herrliche Wellen, aber die Strömung scheint nicht ganz so gefährlich, außerdem sind wir ja nun vorsichtiger geworden. Aber auch heute erwischt es wieder Bernhard, er wird durch eine donnernde Welle über eine Felsplatte geschliffen und trägt eine ordentliche, blutende Schürfwunde davon. Er sieht aus, als wenn er mit einem Hai gekämpft hätte. Langsam sind seine Schutzengel aufgebraucht. Ansonsten genießen wir Sonne, Sand und Meer. Auf dem Weg nach Hause stehen wir wieder einmal in einem unendlichen Stau, ein Grund für den Stau ist nicht zu erkennen und so brauchen wir gut und gerne über 1 Stunde, was man sonst in einer halben Stunde erledigt. Am Donnerstag wird, zu meinem Leidwesen, ein ganzer Strandtag beschlossen. Wir fahren zur Lagune, hier ist das Wasser ganz ruhig, da die gesamte Bucht durch eine Korallenbank geschützt ist. Wir relaxen, mieten uns Paddelboote und Schnorcheln durch die Korallenbänke. Große Schwärme bunter Fische sind zum Greifen nahe. Man kommt sich vor, wie in einem riesigen Aquarium. Manche Fische machen den Eindruck, als wenn sie gestreichelt werden möchten, aber wenn man dann die Hand nach ihnen ausstreckt, sind sie auch schon zwischen den Korallen verschwunden. Außer eine Sorte, einer Art Barsch, der etwas angriffslustig ist, wenn man sich seinen Korallen nähert. Wir treffen eine Französin, die seit 5 Jahren auf der Insel lebt und Perlenketten verkauft. Sie bezahlt für ein kleines Apartment 625,-€ Miete im Monat. Sie erklärt uns, warum die Preise hier so hoch sind. Die entsandten Beamten vom Festland verdienen hier erheblich mehr als zu Hause und zahlen dementsprechend hohe Mieten. Die Beamten mit Familien und Rentnern machen immerhin 140.000 Menschen aus und das bei 750.000 Einwohnern. Sie erklärt uns auch, warum es hier so viele Staus gibt. Der Grund liegt darin, dass man den Leuten günstige staatliche Kredite zum Kauf eines Autos gewährt. Manche Leute haben kein Strom und Wasser, aber dafür ein Auto. Auch von der Lagune zurück nach Hause wieder der übliche Stau, was einen ziemlich nerven kann. Unser nächster Ausflug führt uns zu dem Vulkan „Piton de la Fournaise“, dieser Vulkan ist gerade im August ausgebrochen und durch die Lava sind 10 Hektar neues Land im Meer entstanden. Die Fahrstraße bringt uns von der Küste bei St. Piere über Tampon, der Plaine des Cafres bis zum Pas de Bellecombe. Immer wieder gibt es atemberaubende Aussichtspunkte, vor allem spielt heute das Wetter mit, und wir haben eine super Aussicht. Am Ende der Straße beginnt unser Marsch, d.h. unser Abstieg in den L’Enclos. Es ist eine natürliche Lava Arena, in dessen Zentrum der Vulkankegel thront. Den eigentlichen Vulkan besteigen wir allerdings nicht, das würde ca. 5 Stunden dauern. Wir begnügen uns mit dem kleinen Krater „Leo“, der 1753 das letzte Mal ausgebrochen ist. Um uns herum die absolute, kahle, trostlose Mondlandschaft, hier sammeln wir unsere Souvenir Lavabrocken für zu Hause. Auf der Rückfahrt machen wir an einem der vielen, schön gelegenen Picknickplätzen unser heutiges Picknick, im aufsteigenden Nebel. Wir suchen als erstes den Schuldigen, der die Salami vergessen hat, aber wir werden letztendlich auch ohne Salami satt. Die Hafenstadt St. Piere wird im Reiseführer als interessanter Ort für Sonnenuntergänge und Treff von Weltenbummlern angepriesen. Hier sollen angeblich Segelschiffe aus aller Welt auf ihrer Weltumrundung anhalten, wir finden jedoch kein einziges dieser Schiffe. Außerdem ist die Innenstadt eine einzige Chaosbaustelle und die Restaurants in Küstennähe sind schweineteuer. Wir begnügen uns mit Kaffeetrinken und genießen den Abend besser auf unserer Bungalow Terrasse mit frischer Pizza, Käse, Rotwein und Punsch. Der Punsch ist hier ein typischer Aperitif, es ist ein Rum Mixgetränk. Der dazugehörige Rum wird aus dem Zuckerrohr dieser Insel gebrannt. Ein sehr bekömmliches Getränk. Wir laufen fast jeden Morgen 14 km mit 400 Höhenmetern hinauf zum Funkturm. Es fällt uns eigentlich jeden Morgen gleich schwer und wir können uns noch gar nicht so recht vorstellen, 8.100 Höhenmeter zu laufen. Nach dem Laufen geht es zur Entspannung immer in den kühlen Pool und alle Anstrengung ist vergessen. Unser Reiseführer meint, dass man unbedingt das Museum de Villele besichtigen müsse. Es war im 19. Jahrhundert eine der bedeutendsten Plantagen auf der Insel. Zu dieser Zeit gab es auf der Insel dreiviertel Sklaven und nur einviertel Weiße. Die Sklaverei wurde dann, zum Leidwesen der Zuckerbarone, 1848 abgeschafft. Das Museum kann man jedoch von der Empfehlungsliste getrost streichen, denn es besteht zur Hälfte aus einer Ruine und der Rest sieht auch nicht gerade herrschaftlich aus. Viel interessanter ist die anschließende Fahrt mit einem Glasbodenboot durch die Korallenbänke von St. Gilles. Hier bekommen wir alles an bunten Fischen zu sehen, was der indische Ozean zu bieten hat. Außerdem sehen wir die Insel auch einmal von der Seeseite. Auf der Rückfahrt schwimmt eine riesige 250 kg schwere Wasserschildkröte neben unserem Boot. Der Ort St. Gilles ist so, wie wir uns am gestrigen Tag eigentlich St. Piere vorgestellt hatten. Ein kleiner netter Hafen, Geschäfte, Lokale und vor allen Dingen sauber. Hier in der Nähe wird das obligatorische Picknick gemacht und anschließend geschnorchelt. Heute am Samstag ungewöhnlicherweise mal kein Stau auf der Rückfahrt. Zuhause angekommen wird gleich wieder die Küchenarbeit verteilt: Bernhard schneidet Gemüse, Erika und Marion machen die Spaghettisauce und den Salat, Heike macht die Nudeln und Torsten und ich schlaue Sprüche. Den Sonntag verbringen wir im Inselinneren, wir fahren nach Cilaos. Die 35 km lange Fahrt von der Küste ist schon recht abenteuerlich, kurvenreich und stark Steinschlag gefährdet. Hier scheint es nur sehr steile Berge zu geben und Formen, die man aus unseren Alpen so nicht kennt. Cilaos ist ein nettes kleines Städtchen und jetzt am Wochenende ziemlich belebt, natürlich sind hier viele Wanderer, die hier ihre Wanderungen beginnen. Wir werden uns mit dem Wandern etwas zurückhalten, denn der Grand Raid wird uns auch hier vorbeiführen. Cilaos ist umgeben vom Cirque de Cilaos, einer riesigen steilen Bergwand, mit einem schwindelerregenden Relief. Irgendwie können wir uns gar nicht recht vorstellen, wie wir diese steilen Berge hoch laufen sollen. Der Name Cilaos kommt aus dem Madagassischen und bedeutet soviel wie: Da geht kein Feigling hin….. Heute ist Markt in Cilaos und Nick bekommt seine erste Armbanduhr und die Frauen Lederrucksäcke aus „Paris“. Außerdem wird hier der einzige Wein, der auf der Insel angebaut wird, zum Probieren und Kaufen angeboten. Die Welt hier oben in den Bergen ist schon eine andere und alles wird wieder überragt vom höchsten Berg der Insel, dem Piton des Neiges (3069m), den wir schon vom Vulkan gesehen haben. Beruhigend ist zumindest, dass wir dort beim Grand Raid nicht hoch müssen. Auf der Rückfahrt durch die kurvigen Straßen „darf“ ich hinten sitzen und mir wird ziemlich übel und somit dankbar für jede Fahrtunterbrechung. In einem der Bungalows ist heute ein Franzose eingezogen, der den Grand Raid in diesem Jahr bereits zum 6. Mal läuft. Allerdings läuft er in einer anderen Klasse als wir. Er ist zwischen 23 und 35 Stunden gelaufen und meint, dieses Rennen ist mit keinem anderen vergleichbar, von der Anstrengung ebenso wie von der Schönheit. Das sonntägliche Abendessen liefert uns Marie und Charlotte von nebenan. Es gibt wieder leckere Samosas, die kleinen gefüllten Teigtaschen, ein Schweine Cary mit Reis und scharfer Mangosauce und der tolle, sättigende Bananenkuchen. Da Marie ständig lautstark nach ihrer Tochter Charlotte ruft, ist der Name Charlotte auch bei uns ständig in Gebrauch. Es wird immer derjenige Charlotte gerufen, der etwas machen soll, so ist jeder einmal die Charlotte. Am Montag kommen unsere letzten 3 Kämpfer, Dirk, Peter und Franz an. Erika und ich fahren zum Flughafen, um die drei einzufangen. Der Flug ist überpünktlich und so warten die Neuankömmlinge schon mit ihrem nagelneuen Renault Symbol. Wir können direkt durchstarten zum Strand an die Lagune, wo die anderen schon in der Sonne brutzeln. Bei Willy werden dann zwei weitere Bungalows bezogen und dann wird mit 11 Leuten auf Bethges Terrasse gegrillt. Die Vorspeisen, Chilisauce und den Kuchen liefert wieder unsere geschätzte Marie von nebenan. Noch einmal fahren wir mit Dirk, Peter und Franz zum Übersichtspunkt Le Maido, oberhalb des Mafate Talkessels. Der Rest der Mannschaft fährt schon mal vor zum Strand. Wir machen wieder, wie gewohnt, oben auf dem Berg unser Picknick. Allerdings ist auch heute wieder null Sicht in den Talkessel. Wir müssen halt warten, bis wir beim Grand Raid durchlaufen und dann hoffentlich mehr sehen. Aber die Fahrt hier hinauf ist trotz allem wieder sehr schön. Anschließend fahren auch wir wieder zum Strand zu den anderen auf ein kühles Dodo Bier. Das Rennen rückt näher, am Mittwoch holen wir in St. Denis unsere Startunterlagen ab. Im La Redoute Stadion von St. Denis, wo auch der Zieleinlauf sein wird, stehen wir in langen Schlangen bei der Ausgabe an und treffen auf einige Deutsche und Österreicher. Jeder bekommt eine Startnummer mit Scanner Code, Passbild und dem extra groß geschriebenen Vornamen. Auf der Rückseite befindet sich die Streckenbeschreibung mit den Checkpoints, den Verpflegungsstellen und das Streckenprofil. Das ganze wasserdicht eingeschweißt, sicher nicht ohne Grund. Wir müssen unseren Ausweis vorzeigen und etwas unterschreiben, von dem niemand weiß, was es ist. An einer großen Tafel sind alle Bilder der Teilnehmer ausgehängt, ebenso waren wir alle in der gestrigen Ausgabe der „Le Quotidien“ abgedruckt. Es sind 2.163 Teilnehmer für die ganze Strecke und 549 für die halbe Strecke gemeldet, davon 25 Deutsche. Die meisten Läufer, nämlich 1.782, kommen von der Insel und dann der überwiegende Teil vom Mutterland Frankreich. Während wir hier anstehen, bummeln unsere Frauen durch die Hauptstadt St. Denis, die aber nichts Besonderes bietet. Im größten Supermarkt der Insel, bei Jumbo, kaufen wir ein und es wird noch mal ordentlich gegrillt, so dass Franz auch mal zum Einsatz kommt, mit seiner mitgebrachten Grillzange. Außerdem laben wir uns an seinen 2 Laiben Bauernbrot aus Stuttgart. Der letzte Tag vor unserem Rennen und vor dem Abflug der Frauen und Kinder lassen wir es langsam angehen. Nach einem ausgiebigen Frühstück und unzähligen Gruppenfotos im Laufdress, teilen wir uns in 3 Gruppen. Ich fahre mit den Kindern zunächst in einen nahe gelegenen Krokodilpark, wo 190 Krokos faul im Wasser und unter den Palmen liegen, ansonsten ist der Park etwas Disneypark ähnlich aufgezogen. Nick fährt erstmals mit einem Quad auf einem Geländeparcours und landet erst einmal im Reifenstapel, da er das Lenken vergisst. Dirk und Peter bringen ein Auto nach St. Denis, damit wir vom Ziel auch wieder nach Hause kommen. Der Rest fährt zum relaxen an die altbewährte Lagune, wo wir uns schließlich alle treffen und zum letzten Mal Sonne, Sand und Meer genießen. Unsere Frauen zaubern uns am Abend noch eine Henkersmahlzeit in Form von Spaghetti und Salat. Jeder versucht noch ein paar Stunden zu schlafen, mein Schlaf wird durch mein klingelndes Handy unterbrochen. Hannes schickt eine SMS aus Venedig und wünscht uns alles Gute, er wird dort am Sonntag den Venedig Marathon laufen. Bei heißem Kaffee und Honigkuchen verabschieden wir uns von unseren Familien und fahren dicht gedrängt, zu sechst, im Renault zum Cap Mechant. Am Cap Mechant herrscht Partystimmung unter Flutlicht. Jeder von uns wird elektronisch eingecheckt und die vorgeschriebene Pflichtausrüstung wird überprüft. Wir müssen Trillerpfeife, Überlebensdecke, Salbe, Lampe mit Ersatzbatterien, Verbandmaterial, Wechselkleidung und 1 Liter Wasser vorweisen. Die Überprüfung ist jedoch längst nicht so umfangreich, wie beim Marathon des Sables. Jetzt sind wir im abgesperrten Stadionbereich und es gibt kein entrinnen mehr. Hier treffen wir auf unsere alten Bekannten Sigrid Eichner und Bernhard Sesterheim, dessen Erfahrungsbericht vom letztjährigen Grand Raid jeder von uns mehrfach gelesen hat. Die Zeit bis zum Start geht schnell vorüber. Bei lauter, schrecklicher Musik werden die letzten Sachen erledigt, Kaffeetrinken, an der Toilette anstehen, abfetten, Fotos machen und noch einmal schauen, dass alles richtig sitzt. Alle Teilnehmer tragen brav das Sponsoren T. Shirt, denn bei nicht tragen droht eine Zeitstrafe von 3 Stunden, wie bei so vielen Sachen, die man falsch machen kann. Um Punkt vier Uhr wird die ganze Läuferhorde in die Nacht geschickt und jedem fällt ein Stein vom Herzen. Denn wenn man so lange darauf wartet, wird es auch irgendwann Zeit, dass es losgeht. Wir brauchen sicherlich 10 Minuten, bis wir vernünftig laufen können, die engen Ortsstraßen sind halt nicht für 2.000 Läufer gemacht. Noch ein kurzes Stück auf der Küstenstraße, dann biegen wir ab in die Zuckerrohrfelder. Hier laufen wir im Schein der Taschenlampen leicht berghoch, genau das richtige zum warm werden. Wir haben uns in 2 Gruppen geteilt: Torsten, Franz und ich und dann Bernhard, Peter und Dirk. Das Zuckerrohr ist 4 – 5 Meter hoch und man könnte meinen, durch einen Tunnel zu laufen. Die leuchtende Läuferschlange erinnert an einen Kinderlaternenumzug zu Hause. Zu diesem Zeitpunkt überholen wir unglaublich viele Teilnehmer, weil viele schon wandern. Wir haben schon fast den Eindruck, bald an der Spitze zu sein, aber das wird wohl nicht der Fall sein. Nach 5 km kommt die erste Wasserstelle, wo ein ziemliches Gedränge herrscht. Wir laufen vorbei, denn unsere Wasserflaschen sind noch voll. Bisher konnten wir im Schein der anderen Taschenlampen laufen, aber nun wird der Weg zunehmend steiniger und so holen auch wir unsere Lampen heraus, damit wir nicht schon gleich zu Anfang über die spitzen Steine stolpern. So laufen wir dem Morgen entgegen und plötzlich, als wenn jemand einen Schalter umlegt, ist es hell. Das Wetter ist perfekt zum Laufen. Nach 2 Stunden erreichen wir den ersten Checkpoint bei 15,9 km in 685 m Höhe, bis hier war alles easy, und wir sind schnell vorangekommen. Zwei Becher Cola, Schokolade, Kekse, Banane, die Flaschen auffüllen und weiter geht’s. Ab hier ist an laufen nicht mehr zu denken. Auf schmalen, extrem steilen, schlammigen und Wurzel übersäten Pfaden geht es durch den feuchten und dampfenden Regenwald immer weiter hinauf. Auf den nächsten 5 km überwinden wir 1.400 Höhenmeter. An besonders schwierigen Passagen kommt es immer wieder zu Rückstaus. Einige, die es besonders eilig haben, versuchen auch hier zu überholen und werden natürlich zu recht beschimpft und verflucht. Plötzlich hört der Dschungel auf und wir laufen durch mannshohe Büsche, vor uns am Berg die endlose Läuferschlange. Man kann schon sehr gut sehen, wo man in einer halben Stunde sein wird. Immer wieder machen wir kurze Pausen und genießen den Blick auf den Indischen Ozean, weit unter uns. Wir laufen jetzt auf Lava Geröll oder man hüpft von einem großen Lava Brocken zum nächsten. Die Laufschuhe werden hier auf eine harte Bewährungsprobe gestellt. Wir erreichen das Gebiet Foc Foc und durchlaufen eine endlos wirkende Lava Wüste. Von weitem sehen wir schon die Zelte der nächsten Verpflegungsstelle. Torsten ist schon seit 10 Minuten da, als ich eintreffe. Von Franz ist nichts mehr zu sehen, er hatte schon über Muskelprobleme geklagt. Hier oben scheint zwar die Sonne, aber es bläst ein kühler Wind. Die Shirt's sind nassgeschwitzt und schnell fangen wir an zu frieren, da nützt auch die heiße Suppe nichts. Wir warten noch eine Viertelstunde, bevor wir ohne Franz aufbrechen. Wir laufen immer entlang des Kraterrandes des Piton Fournaise Vulkans, wo wir vergangene Woche schon einmal waren. Das Laufen hier oben ist angenehm und wir kommen gut voran. Jeder hofft, dass es so bleibt, aber da haben wir noch nicht gewusst, dass der Erfinder dieses Rennens ein Sadist sein muss. Wir laufen durch die Plaine des Sables, eine düstere, tiefschwarze Lavawüste. Der Vulkan ist binnen Minuten in Wolken verhüllt und auch wir laufen mal wieder durch dichten Nebel. Wir fühlen uns gigantisch, denn wir haben schon ein Viertel der zu laufenden Höhenmeter im Sack. Noch eine Verpflegungsstelle auf dem Vulkanrand, wo wir uns wieder gewaltig die Bäuche voll schlagen. Wahrscheinlich werden wir bei diesem Lauf zunehmen, statt abzunehmen. Hier oben ist eine tolle Stimmung, viele Zuschauer bejubeln uns. Immer wieder hört man „Courage, Courage oder Alez, Alez“. Viele versuchen einen auch mit Namen anzusprechen, deshalb der groß gedruckte Vorname auf der Startnummer. Aber mit Torsten und Friedhelm haben sie so ihre Probleme. Bei Bernhard ist das schon einfacher, denn jeder dritte Franzose heißt Bernard. Gut gestärkt geht es weiter durch eine flache, gut zu laufende Hochebene, weit vor uns baut sich eine steile Wand vor uns auf. Je näher wir kommen, desto besser können wir die Läufer erkennen, die sich hinauf quälen. Es geht 200 Höhenmeter in steilen Serpentinen hinauf und wir erreichen um 12.00 Uhr mittags den höchsten Punkt des Rennens, das Oratoire St. Therese mit 2.411 Metern. Wir belohnen uns selbst mit einer kleinen Pause und einem Trinkjoghurt, den wir von der letzten Verpflegungsstelle mitgenommen haben. Wir passieren unseren Picknickplatz der letzten Woche, wo wir im Nebel ohne Salami gerastet hatten. Am Piton Textor rasten wir heute und gönnen uns ein erfrischendes Fußbad, bevor wir den nächsten, 10 km entfernten Checkpoint entgegenlaufen. Wir laufen 500 Höhenmeter, überwiegend durch Viehweiden hinab und fühlen uns nach wie vor großartig. Hier geht es teilweise über asphaltierte Wege und sogar einmal auf der Hauptstraße entlang, das schafft Kilometer. Am Checkpoint bei 50 km sind sehr viele Zuschauer, viele einheimische Läufer lassen sich hier von ihren Angehörigen verpflegen, einige Fußkranke liegen neben dem Weg im Gras und lassen sich massieren. Auch wir liegen im Gras vor dem Verpflegungszelt und genießen die Nudelsuppe und wie immer die Cola. Bevor es weiter geht werden wir zur Rucksackkontrolle gebeten,jedoch kein Problem, denn wir haben ja unsere Pflichtausrüstung noch dabei. Von nun an wird es wieder härter, es geht ständig steil hinauf und wir schaffen gerade mal 2,5 km in der Stunde. Es ist nebelig, kühl und feucht. Der Weg ist alles andere als gut, ein Matschloch nach dem anderen. Meine guten Nike Pegasus haben jetzt eine komplette Schlammkruste. Stahlseile geben uns eine gewisse Sicherheit, besonders steile Teilstücke werden mit Eisenleitern überwunden. Hier fühlen wir uns schon nicht mehr so großartig, aber eine heiße Suppe am Verpflegungspunkt gibt uns neuen Mut, laute Abba Musik tut ein Übriges. Mit einem extra Marsriegel im Bauchgurt geht es nun auf den nächsten 3 km mit 800 Höhenmeter im Sturzflug ins Tal. Der „Directeur de Course“ Denis Boulle’ warnt uns vor dem gefährlichen Abstieg. Auf einem höllischen Weg, gespickt mit Leitern, Stahlseilen und riesigen Stufen stolpern wir ins Tal hinunter. Eine Gedenktafel erinnert an einen Teilnehmer, der hier im Jahr 2002 einem Herzinfarkt erlag. Bloß schnell weiter! Im Wald von Maria und Joseph, den wir auch schon von einem unserer Ausflüge kennen, haben wir wieder festen Boden unter den Füßen. Von hier sind es nur noch 5 km bis Cilaos und man könnte bequem auf der Straße laufen. Aber der sadistische Veranstalter schickt uns noch einmal durch eine tiefe Schlucht, es ist mittlerweile dunkel. Bei einer Bachüberquerung gleite ich aus und habe ab sofort einen nassen Fuß. Die Taschenlampe knallt mit voller Wucht auf einen Felsen und sie ist tatsächlich stoßfest. In Cilaos werden wir wieder sehr freundlich empfangen. Unglaublich, wir haben fast die Hälfte geschafft, sowohl von der Entfernung, als auch von den Höhenmetern. Insgeheime Hochrechnungen ergeben eine Endzeit von ca. 40 Stunden, aber es soll alles anders kommen. Denn wir wissen ja noch nicht, dass die zweite Hälfte schlimmer wird! Wir gehen duschen, wo wir uns anschließend mit einem fremden, herumliegenden und dreckigen Handtuch notdürftig abtrocknen. Hoffentlich gibt das keine Pickel. Wir ziehen uns trockene Sachen an und gönnen uns ein ausgiebiges Abendessen. Es ist ein Wahnsinn, was während diesem Lauf verbraucht wird. Hier nur ein kleiner Auszug: 5.300 Mars Riegel, 6.300 Liter Cola, 208 kg Zucker, 4275 Teebeutel, 5376 Portionen Käse, 2130 Baguettes, 4.410 Joghurts, 780 kg Reis, 27374 Flaschen 1,5 Liter Wasser, 805 kg Orangen, 82 kg Salz sowie 554 Rollen Toilettenpapier. Gerade als wir mit dem Essen fertig sind kommen Dirk, Peter und Bernhard an. Wir beschließen etwas zu schlafen. Im Schlafzelt dürfen wir uns aber nur maximal 2 Stunden aufhalten, wahrscheinlich damit jeder in den Genuss eines Feldbettes und einer kratzigen Decke kommt. An schlafen ist jedoch kaum zu denken, ständig kommen neue Raider oder brechen auf in die Nacht. Links neben mir ein lautes Schnarchen und rechts neben mir ein ständiges Räuspern. Ich habe die Schnauze voll, schnapp meine Sachen und gehe schon nach knapp einer Stunde Kaffee trinken. Torsten kommt kurze Zeit später nach. Laut klatschend empfangen wir dann schließlich auch noch Franz, der Gott sei Dank auch noch im Rennen ist. Um halb Elf starten wir zu unserem nächtlichen Verdauungsspaziergang, hinauf zum Col du Taibit (2.082 m). Am Fuße des Berges gibt es noch eine Verpflegungsstelle, wo wir uns noch einmal für die lange Nacht stärken, die beleuchteten Zelte kann man schon von sehr weit sehen, aber man muss unendlich viele Schleifen laufen. Wir haben den Eindruck, im Kreis zu laufen und das macht einen mürbe. Hier laufen auch wieder Dirk, Peter und Bernhard auf uns auf. Nun sind 800 Höhenmeter zu überwinden, auf einem relativ guten Weg. Unterwegs gibt es auch mal eine positive Überraschung, ein außerplanmäßiger Teestand. Tee hat noch niemals vorher so gut geschmeckt wie hier. An einem Rotkreuzposten liegen einige Raider am wärmenden Lagerfeuer und schlafen. Aber wir wollen weiter zum Lager in Marla. Auf dem Berggipfel verharren wir nur sehr kurz, denn es ist hier oben saukalt. Am Gipfel ein Hinweisschild „20 Minuten bis Marla“. Super!!! Der steile Ziegenpfad ist ätzend! Jeder Schritt eine Tortour, man muss dermaßen aufpassen, nicht zu stürzen oder umzuknicken. Die Konzentration lässt nach, der Schlafentzug macht sich doch bemerkbar. Gut dass ich Handschuhe dabei habe, denn im Dunkeln greife ich immer wieder in Büsche und Bäume hinein, um mich etwas festzuhalten, einige sind ganz schön stachelig. Wir brauchen 1 Stunde bis Marla, ich möchte denjenigen sehen, der hier in 20 Minuten hinunter fliegt. Im Roadbook sind Betten eingezeichnet, auf die wir uns schon freuen. Die wenigen Betten sind aber nur für Verletzte vorgesehen und so müssen wir uns ins nasse Gras, ans qualmende Lagerfeuer legen. Notdürftig mit der Überlebensaludecke zugedeckt schlafe ich kurz ein und wache nach 10 Minuten frierend wieder auf. Ich setzte mich an einen Tisch und schlafe etwas im Sitzen, den Kopf auf dem Tisch abgestützt. Als ich nach kurzer Zeit auch hier wieder aufwache, sind meine Beine eingeschlafen und ich falle, beim Versuch aufzustehen, erst mal hin. Der Grand Raid fordert alles und es kotzt mich erstmals. Da wir nun wieder alle zusammen sind, beschließen wir weiterzulaufen, der Sonne entgegen, damit uns wieder warm wird. Das funktioniert ganz gut. Wir sind jetzt im Mafate Talkessel, den wir zweimal im Nebel von oben gesehen haben. Urplötzlich ist es wieder hell und die Sonne scheint, alles ist wieder gut! Wir müssen uns auch schon wieder bald unserer Jacken entledigen. Am Verpflegungspunkt Trois Roches, der malerisch an einem Wasserfall liegt, machen wir ein ausgiebiges Frühstück in der Sonne. Dieser Verpflegungspunkt kann nur mit dem Helikopter versorgt werden, Straßen gibt es hier keine. In den nächsten Stunden schaffen wir gerade mal 2,5 km in der Stunde und jeder stellt so seine Hochrechnungen an. Für die fehlenden 50 km wären das 20 Stunden, falls nichts dazwischenkommt. Hier begrabe ich meine Hoffnung, am zweiten Abend im Ziel zu sein, wie ich es eigentlich gehofft hatte. Jeder ist sicherlich auf seine Art deprimiert, bei dem Gedanken erst am nächsten Morgen in St. Denis zu sein. Wir sind alle ziemlich platt, aber ans aufgeben denkt keiner! Die Sonne im Mafate Talkessel brennt brutal und jeder von uns verbrennt sich irgendwelche Hautstellen. Die Ausblicke im Talkessel sind grandios. Wir treffen einen deutschen Lehrer, der hier wandert. Er meint, wer nicht durch Mafate gewandert ist, war nicht auf Reunion. Na ja, dann sind wir ja gut dabei, denn wir durchwandern es komplett. Es geht ständig rauf und runter, wir hüpfen von einem Stein zum anderen und jeder versucht sich wach zu halten. Es geht mal wieder 800 m hinab, um anschließend mal richtig bequem am Fluss „Riviere des Galets“ entlang zu laufen, den wir mehrmals kreuzen müssen. Wir gönnen uns eine 10 minütige Pause und ich mir ein erfrischendes Fußbad im Fluss. Hier auch mal etwas ganz neues, wir laufen durch einen Tunnel, bevor wir einen weiteren Verpflegungspunkt mit Feldbetten erreichen. Wir sind uns einig, an diesem Nachmittag 1 ½ Stunden auf den besten Feldbetten der Welt zu ruhen. Die Betten sind um diese Zeit noch fast alle frei. Wir essen erst mal ordentlich, um dann in einen Tiefschlaf zu fallen. Mit Blues Brother’s Musik werden wir unsanft geweckt, aber wir müssen los, damit wir den nächsten steilen Aufstieg noch im Hellen schaffen. Es ist schon erstaunlich, wie sich ein geschundener Körper in solch kurzer Zeit scheinbar erholen kann. Wir sind uns alle einig, dies war die beste Verpflegungsstelle bisher. Der Berg, der vor uns liegt ist wieder 700 m hoch, der Weg zumeist nur Schulterbreit, neben dem Weg steil hinunter, an besonders schlimmen Stellen geben uns die Stahlseile eine gewisse Sicherheit. Sehr hilfreich ist Dirk’s Höhen-messer, denn die Höhenangaben im Road Book sind ziemlich verlässlich und so gibt es alle paar Minuten Höhenangaben von Dirk. So wissen wir zumindest, was noch vor uns liegt. Nach 4,5 km werden wir in der Ortschaft Dos d’Ane lautstark als Helden empfangen. Einer Einheimischen kann ich einen Wanderstock abquatschen, der mich fortan begleitet. Hier erwarten uns endlich wieder bequeme Straßen, man kommt sich fast vor wie bei einem Stadtmarathon. Anschließend aber gleich wieder 3 km steile, unwegsame Steige und das wieder bei Dunkelheit. Im Stadion von Dos d’ Ane bei 115 km noch einmal eine Stärkung, bevor eine neue, anstrengende Nacht bevorsteht. Von hier haben wir unseren ersten Blick auf das nächtlich erleuchtete St. Denis, wo unser Ziel ist. Es sind nur noch 25 km, die aber unseren Willen brechen sollen. Wir verabschieden uns wieder von der Zivilisation mit einem Becher heißer Suppe in der Hand und brechen auf in einen niemals enden wollenden Wald. Es ist das schlimmste Teilstück des Rennens. Der Weg führt über sämtliche Bergrücken oberhalb von St. Denis. Wir stolpern auf spiegelglatten Lehmwegen durch die Nacht. Etwas Schlimmeres hätte der Veranstalter wohl nicht finden können, jeder flucht vor sich hin. Schlafende Raider liegen neben der Strecke im Dreck. Sanitäter kommen uns mit einer Tragbahre entgegen, Gott sei Dank nicht für uns. Wir suchen eine Verpflegungsstelle und phantasieren schon, dass wir die Lichter sehen, aber das sind leider nur andere Raider, die durch die Nacht irren. Von einem Franzosen erfahren wir, dass diese Verpflegungsstelle gestrichen ist. Eine andere, zusätzliche erreichen wir und erfahren, dass wir noch gar nicht soweit sind, wie gedacht, es sind noch weitere 3 km in diesem matschigen Horrorwald! Das macht einen fertig! Aber irgendwann erreichen wir den Checkpoint Kiosk d’ Affouches und hoffen, dass die restlichen 13 km bis St. Denis besser werden. Auch hier sind wir uns wieder einig, dass dies der schlimmste Teil des Rennens war. Wir versuchen wieder etwas zu schlafen, Bernhard kann sogar ein Feldbett und eine Decke ergattern. Aber wir drücken uns wieder von einer unbequemen Ecke zur nächsten. Es ist genau wie in Marla ungemütlich und kalt. Ich glaube es kann gar nicht soviel Koffein in Kaffee und Cola geben, um die Müdigkeit zu unterdrücken. So döst jeder irgendwie vor sich hin. Im Morgengrauen geht’s weiter. Zum eingewöhnen ein ganzes Stück auf einer breiten Forststraße, dann wieder unwegsam auf und ab, wie gewohnt. Wir erleben unseren dritten Sonnenaufgang. In Colorado erwartet uns der letzte Verpflegungspunkt, wo es einen heißen Frühstückskaffee gibt. Hier müssen wir auch wieder unsere verdreckten und nassen Sponsoren T.Shirt's überziehen, damit es beim bevorstehenden Zieleinlauf nicht doch noch eine Zeitstrafe gibt. Die letzten 5 km nach St. Denis werden nun in Angriff genommen. Sicher könnte man auch hier bequem auf einer Straße laufen, aber auch hier hat sich der Veranstalter noch einmal allergrößte Mühe gegeben, einen schlechten Weg zu finden, denn wir müssen noch 650 Meter hinunter. Wir können das Stadion mit dem Zieleinlauf schon sehen und hören, aber das nützt nichts. Noch einmal steile, steinige Serpentinen mit Stolperfallen. Meine Knie und Oberschenkel fühlen sich an, als wenn sie ihre doppelte Größe angenommen haben. Nach 52 Stunden und 51 Minuten hat die Tortur ein Ende, wir laufen gemeinsam im Stadion ein. Bekommen ein Finisher Shirt, eine super Medaille und einen Fressbeutel. Geschafft!!! Auch Franz kommt bald an und so sind wir tatsächlich mit null Ausfällen durchgekommen. Gigantisch!!! Die Siegerzeit von gut 20 Stunden liegt mit 4 Stunden über der im Vorjahr. Unser bekannter Franzose, der bereits 6 Mal hier gelaufen ist, erklärt uns, dass es in diesem Jahr am härtesten war. Auch er hatte so seine Probleme. Wir erholen uns noch einige Stunden in der Sonne liegend, trinken Bier, essen mal was Vernünftiges und duschen uns den Dreck von 3 Tagen ab. Siegrid Eichner kommt auch noch im Zeitlimit ins Ziel, Bernhard Sesterheim etwas darüber. Die 80 km Fahrt zurück zu unseren Bungalows ist für unseren Fahrer Torsten besonders hart, denn jeder von uns nickt immer wieder ein, auch wenn die Sitzposition noch so unbequem ist. Torsten hält tapfer durch und wir kommen sicher an. Wir gönnen uns ein paar Stunden Schlaf, es ist wohl der tiefste Schlaf, den ich jemals hatte. Um 20.00 Uhr ist Schluss mit Ruhe, denn Maria steht mit dem Abendessen vor der Tür und es wird bis spät in die Nacht gefeiert. Natürlich muss die Strecke noch einmal komplett mental durchlaufen werden. Dirk’s und Torsten’s Füße sehen böse aus, aber das wird sicher bald verheilen. Franz hat sich gewaltig das Gesicht und Dirk die Stirn verbrannt. Und jeder ist natürlich noch etwas steif. Aus der Zeitung erfahren wir, dass letztendlich 2.042 Raider gestartet sind, von denen jedoch nur 1.387 im Ziel angekommen sind, also jeder 3. ist ausgefallen oder wurde von den Rennärzten aus dem Rennen genommen. Wir belegen die Plätze 1.119 bis 1.123. Franz landet mit 56:23 auf Platz 1.269. Wir sind uns alle einig, dass dieser Lauf ein einmaliges Abenteuer bleiben soll. Aber als ich diese Zeilen in einem Strand Restaurant, bei einer Karaffe Rotwein, schreibe, denke ich schon über eine erneute Teilnahme nach. „Schau ma moi“, wie Beckenbauer zu sagen pflegt. Die letzten 2 Tage auf der Insel verbringen wir überwiegend am Strand. In einem Strand Restaurant gönnen wir uns ein zauberhaftes Fischessen unter Palmen, direkt am indischen Ozean. Schöner geht’s nicht und die Strapazen sind schnell vergessen. Zum Abschied noch ein Dodo bei Maria, ein letztes Bad im Ozean, Bummel durch St. Denis und schließlich die verdreckten Autos zurückgeben. Mit einem Jumbo der Corse Air verlassen wir doch etwas wehmütig diese Insel in Richtung Paris. Der Flug ist weitaus angenehmer und bequemer, als der Hinflug mit Air France, zumal die Maschine längst nicht vollbesetzt ist und wir uns gut ausbreiten können. Ich habe zusammen mit Dirk eine 4er Sitzreihe, wo wir super schlafen können. Eigentlich sollten wir mit der Air Austral zurückfliegen, aber denen ist vor kurzem eine ihrer 2 Boeing 777 ausgefallen, was wir bereits in der Zeitung gelesen hatten. Deshalb hatten unsere Frauen auch Verspätung und brauchten letztendlich 30 Stunden bis nach Hause. Zwei schöne, erlebnisreiche Wochen sind vorüber und wir sind zurück in der kalten Heimat.

Friedhelm Weidemann, Nov. 2004
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