100MeilenBerlin – Der Mauerweglauf 2021


oder auch, wie es auf vielen T-Shirts steht:

Niemand hat die Absicht, 100 Meilen zu laufen!
Nachdem ich ja schon einige spektakuläre Vorbereitungsläufe in diesem Jahr auf die Straße beziehungsweise die Trails gebracht habe, steht nun der absolute Saisonhöhepunkt an!
Der Mau
erweglauf, die 100 Meilen in Berlin, beziehungsweise um das alte West-Berlin!

Der Mauerweglauf wurde 2011 das erste Mal ausgetragen und geht somit dieses Jahr
in die neunte Auflage. Bei der ersten Austragung gehen 78 Läuferinnen und Läufer an den Start, dieses Jahr sind es knapp 400 Einzelläufer plus etliche Staffeln. Die Staffeln können als Zweier-, Vierer-, Zehner oder 10+ Staffeln starten.

Die Laufrichtung wechselt jährlich, ein Jahr g
eht es im Uhrzeigersinn, im Jahr darauf gegen den Uhrzeigersinn um das alte West Berlin. Immer auf der Grenze oder ziemlich dicht daran, eine größere Abweichung gibt es nur im Bereich nördlich von Potsdam, wo die Grenze durch die Havel verlief, da es den meisten schwer fällt, über das Wasser zu laufen. Das soll ja bisher nur bei einem ganz passabel geklappt haben.

Lauftag ist immer der Samstag nach dem 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus, der sich in diesem Jahr zum 60. mal gejährt hat.
Als Startgeld werden 199 € aufgerufen. Das Zeitlimit liegt bei 30 Stunden, wer unter 24 Stunden bleibt, bekommt eine Gürtelschnalle extra!
Laut Eigenbeschreibung gehört der Lauf zu den bedeutendsten 100-Meilen-
Läufen weltweit.
Veranstalter ist die LG Mau
erweg Berlin e.V., unterstützt von über 400 freiwilligen Helfern.
Erinnern soll der Lauf an das Bauwerk, welches 28 Jahre lang die Menschen in Ost und West getrennt hat und an dem viele Menschen ihr Leben gelassen haben. Jährlich wird einem Maueropfer besonders gedacht.
Die 161,3 km lange Strecke ist sehr abwechslungsreich und alle fünf bis neun Kilometer mit einem Verpflegungspunkt bestückt,
so dass man auf der Strecke 26 VPs und zusätzlich noch Zielverpflegung hat. Drei der VPs sind als spezielle Wechselpunkte ausgerüstet, dort kann man seine DropBags hin transportieren lassen.
Die Anmeldung wird immer am 9. November um 18:57 Uhr freigeschaltet. Diese Uhrzeit erinnert an die legendäre Pressekonferenz im Jahre 1989 mit Günther Schabowski. Mehrere Korrespondenten hatten ihn gefragt, ab wann denn die gerade verkündete neue Reglung für die Ausreise aus der DDR gelten solle? Nervös blätterte der sonst immer wortgewandte langjährige Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ und jetzige Berliner SED-Chef in den mitgebrachten Unterlagen. Dann antwortete Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“
Ein Journalist rief: „Gilt das auch für Berlin-West?“ Wieder wusste Schabowski nicht, was er antworten sollte, und schaute in seine Papiere: „Also, doch, doch …“ und las dann ab: „Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“
Und damit war die Grenze offen und die Mauer gefallen. Der Rest ist (deutsche) Geschichte!

Am Freitag vor dem Lauf muss ich früh aufstehen und erst mal noch arbeiten. Am frühen Nachmittag dann mit der Bahn nach Berlin. Gepäck bei meiner Schwester untergestellt, mit dem Rad zum Alex geradelt und dort im H4 Hotel die Startunterlagen entgegengenommen. Vor dem Hotel tummelt sich schon eine illustre Läuferschar, ich treffe unter anderem Ralf den Ultrafriesen und viele andere bekannte Läufer. Den Ultra-Meier aus Westheim vom Hotelzimmer geklingelt und im angrenzenden Biergarten des Paulaners jeweils eine Maß verköstigt. Statt Pastaparty gab’s dann Currywurst Pommes. Mittlerweile sind auch der Wurm, Marina und der Hardes aus PB eingetroffen. Die müssen aber noch ihre Plörren abholen und wollen zur letzten, der angebotenen Pastapartys. Ich setze mich aufs Rad, radel zu meiner Schwester, wo ich mich noch schnell frisch und schick mache, bevor ich zu einer privaten Geburtstagsparty auf der Galerieterrasse meines Schwagers aufbreche.
Wichtig: vorher werden die DropBags gepackt, der Laufrucksack bestückt und die Laufsachen akkurat zurecht gelegt. Ganz wichtig für mich, das am Abend zu machen, morgens hätte ich da keine Ruhe mehr zu. Sehr nette Gäste auf Jacquelines Geburtstag, viele gute Gespräche, drei halbe Tegernseer Hell und noch zwei Bratwürste. Es ist eine laue Sommernacht in Berlin, die Stimmung ist super. Dann bekomme ich Panik, die Nacht ist gleich vorbei, ich will noch, muss noch schlafen. Also nehme ich meine Frau, die gerne noch länger geblieben wäre, in den Schlepptau und auf geht’s ins Nachtlager. Die Nacht ist kurz und unruhig, ich muss mehrmals raus, schlafe zwischendurch immer kurz aber fest. Ist so, lässt sich nicht mehr ändern. Der Wecker klingelt um 4:30 Uhr. Aus dem Zimmer geschlichen, die bereitliegenden Laufsachen angezogen und in die Küche an die Kaffeemaschine. Dieses hypermoderne Gerät zeigt leider eine Fehlermeldung, ich bekomme es nicht zum Laufen. Stattdessen gibt es zwei Gläser lauwarmes Wasser und einen Apfel. Um 5:15 Uhr schnappe ich mir meine vier vorbereiteten Beutel und gehe an die Straße, wo das am Vorabend bestellte Taxi pünktlich auf mich wartet.
Vorbereitet bin ich eigentlich recht gut.
Seit Anfang des Jahres bin ich jedes Wochenende wenigstens einen Marathon gelaufen, manchmal auch zwei, oft auch längere Strecken, bis zu 100 km. Zum Beispiel solche Sachen wie den Heide-Ultra-Trail über 80 km, den Stubai-Ultra-Trail und den Mountainman in Reit im Winkel. Objektiv müsste es eigentlich klappen. Trotzdem habe ich große Selbstzweifel, ob das auch alles so klappt. Ist ja doch eine riesengroße Hürde, 161,3 km durchzulaufen.
Aber, da ich schon seit über anderthalb Jahren angemeldet bin muss ich da jetzt durch. Angemeldet war ich eigentlich für 2020, der Lauf wurde coronabedingt abgesagt und ich habe meinen Startplatz auf 2021 geschoben.
Das Taxi entlässt mich am Jahn-Sportpark. Dort steht glücklicherweise ein kleiner Stand mit Kaffee und etwas Gebäck, so dass ich doch noch zu einem schmalen Frühstück komme. Danke dafür! Hier weihe ich meinen neuen Faltbecher
ein, den ich mit den Startunterlagen erhalten habe. Zum Vermeiden von Plastikmüll führt jeder Läufer jetzt einen Mehrweg Becher mit sich. Gut so!
Etwas überrascht bin ich, dass meine neue Laufuhr mir anzeigt: „Du hast nicht gut geschlafen, heute kein Training!“ Naja, ist ja auch kein Training geplant, nur Wettkampf!
Am Jahn Sportpark treffe ich viele Bekannte, Claudia aus Hamburg, Gabi aus Vechta, Thorsten aus Quickborn, Rene aus Geesthacht, Nicola aus Ostfriesland, Christoph aus Marsberg und seine Ferienwohnungsgemeinschaft, Ultra-Meier aus Westheim, Katrin, Karsten, Ralf, Sigrid, und ganz viele andere bekannte Läufer. Von weitem sehe ich Claudia und Peer.
Zehn vor Sechs dürfen wir ins Stadion und versammeln uns auf der Tartanbahn. Noch das ein oder andere Foto vorm Start und dann, Punkt 6:00 Uhr, geht’s los. Ich reihe mich hinten neben Gabi, Claudia, Ralf, Katrin und Karsten ein, wir bleiben in dieser Kombi auch eine ganze Weile beisammen. Aus dem Stadion sind wir sehr fix direkt auf dem Mau
erweg und unser erster Weg führt gen Süden. Die ersten Kilometer führen durch die Straßen der Stadt. Viele Ampeln, immer wieder rot, die StVO ist einzuhalten, immer wieder warten aber auch viel zu sehen. Die Klassiker halt, Reichstagsgebäude, Brandenburger Tor und dann an der Spree steht da Matthias Hüllen aus Marsberg und bietet uns heimisches Radler von der Westheimer Brauerei an :)) großartig! Aber früh, noch etwas sehr früh, ich lehne dankend ab. Nutze das Wiedersehen aber für einen Plausch und warte auf Katrin und Karsten die mittlerweile von Ralf begleitet werden. Ab hier laufen wir in dieser sehr unterhaltsam Vierer-Kombi über viele viele Kilometer, bis deutlich hinter die Sporthalle in Teltow, die bei Kilometer 60 liegt.
Also, nach dem Hauptbahnhof und dem Regierungsviertel kommen wir an den Checkpoint 1, Entschuldigung, VP1, am Checkpoint Charlie. 8,6 km geschafft, wir sind sehr gemütlich unterwegs. Danach geht es durch das morgendlich, menschenleere Kreuzberg. VP2 ist dann an der East Side Gallery, eine der ganz wenigen längeren erhaltenen Mauerstücke. Sehr angenehmes Morgenlicht und bunte Motive, laden zum Fotografieren ein. weiter Richtung Süden auf der Grenze zwischen Treptow und Neukölln. Ein sehr sehr langes gerades asphaltiertes Stück am Teltowkanal. Glücklicherweise ist auf der linken Seite noch Schatten. Morgens
ist es schon warm, der Tag wird auch warm und sonnig. Für mich angenehm warm, viele andere sagen, zu heiß! Meine Cap schützt mich vor zu intensiver Sonneneinstrahlung.
Hier irgendwo gabelt mich Jana Bieler auf, die mit dem Rad unterwegs ist und Pressearbeit für den 100 Marathon Club macht. Wir unterhalten uns sehr kurzweilig, die Zeit vergeht wie im Flug. Ab Kilometer 60 will Jana dann Micha Bieler begleiten.
Bei circa Kilometer 26 passieren wir in der Nähe einer Autobahnunterführung, die Stelle, an der Dieter Berger niedergeschossen wurde. Dieter Berger verstirbt noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Diese Stelle ist, wie alle Stellen, an den Menschen Ihr Leben an der Berliner Grenze ließen, mit einer Gedenkstele markiert. An vielen liegen heute noch, gestern zum Jahrestag des Mauerbaus, niedergelegte Kränze und Blume
n.
Zwischen Rudow und Johannisthal sind wir am östlichsten Punkt der Strecke.
Irgendwo im Süden, werden wir vom Radweg auf einen Aussichtsberg, wahrscheinlich ein Trümmerberg, geleitet, von wo man zur einen Seite einen traumhaften Blick auf die Skyline der Stadt, auf der anderen Seite, einen Blick auf den neuen BER Flughafen hat. Beim „Roter Dudel“, Kilometer 45, sind wir am südlichsten Punkt der Strecke. VP7, bei Kilometer 46,5 ist interessant benannt, er heißt einfach nur „Ninas Eltern“. Dann kommen wir mal wieder an den Teltowkanal, der verfolgt mich heute. - Oder ich ihn - also - den Teltowkanal?
Mit Kilometer 59,2 erreichen wir den VP9, der auch gleichzeitig Wechselpunkt1 ist, d.h. ich kann dort meinen ersten DropBag entgegennehmen. Wir verpflegen uns ausgiebig, ich gönne mir zwei warme Nudelsuppen und viele andere Köstlichkeiten. Mittlerweile ist es auch schon 13:30 Uhr. Aus meinem DropBag nehme ich nur den hinein gepackten Strohhut. Das Tape benötige ich gottseidank nicht, meine nasse BaseCap schicke ich in dem Beutel wieder zum Ziel.
So ein Strohhut sieht zum laufen zwar beknackt aus, funktioniert aber großartig. Die Luft zieht durch, er ist leicht und das beste ist, er wirft rundherum Schatten. Gesicht, Ohren, Nacken, alles bestens geschützt.
Und dann wird es richtig schön. Es geht Richtung Potsdam. Südlich vom Wannsee sind wir auf dem Königsweg, einer langen geraden Strecke. Dort begegne ich Irmgard, Kevin, Ludwig und Juliane. Von denen radelt auch immer mal der oder die eine oder andere neben mir her, nette Gespräche über Wandern, Berge und Radfahren lenken angenehm ab. Bei der Ortschaft Nikolassee überqueren wir dann wieder die Autobahn, die A115, über eine Fußgängerbrücke, direkt an der ehemaligen Grenzstation. Bei mir läuft es immer noch erstaunlich und überraschend gut.
Und dann überquere ich ihn wieder, den Teltowkanal. Ich sage doch, der verfolgt mich!
Dann passiert es, es ist nur eine kleine Unebenheit die ich nicht sehe, ich hebe die Füße nicht mehr ausreichend hoch, bleibe hängen und stolpere. Abfangen kann ich mich nicht mehr, also schlage ich auf den Boden. Das linke Knie und die rechte Hand aufgeschlagen, mehr ist nicht passiert. Ein Schreck, ich sammele mich wieder, steh langsam auf, gehe ein Stück und komme dann wieder ins Laufen. Verband oder Pflaster möchte
ich nicht, dass Blut soll trocknen und abbröseln. Kevin erzählt sehr interessant und gut informiert über Land und Leute, zeigt mir auf der linken Seite, an einem Steilhang, ein altes, eher klassisches Haus, Architekt ist Mies van der Rohe, den ich so überhaupt nicht kenne. Nur all die modernen Sachen, wie die neue Nationalgalerie, an der wir heute Morgen um sieben schon vorbei gelaufen sind.
Nun über die Glienicker Brücke, kennen ja alle von den Agentenaustausch-Geschichten. Schloss Cecilienhof auf der linken Seite wo Attlee, Truman und Stalin die Potsdamer Verträge unterschrieben haben, dürfte ja auch jedem etwas sagen.
Mir qualmen die Socken Und die Füße tun weh.
Übrigens ist die Strecke bestens markiert, was für über 160 km ja auch nicht ohne ist. Der Veranstalter sagt, in Berlin gibt es viele Pfeile auf dem Boden, aber die Maurwegpfeile haben immer erst drei Punkte und dann den Pfeil. Nachts kommen dann noch kleine blaue Reflektorpfeile dazu.
Bei Kilometer 79, dem VP12, beim Brauhaus Meierei, welch eine Freude, wartet meine Frau Suse samt Nicole und Thomas. Die haben ein kaltes Getränk für mich dabei, was es war, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern, aber es war kalt. Mit immer mal wechselnder Rad Unterhaltung geht es nun um den Jungfern-, Krampitz- und Lehnitzsee. Übrigens, nicht ganz so gut war der Tipp: „Wenn du nicht mehr kannst oder dir etwas wehtut, musst du aufhören!“ Wenn man solche Ratschläge beherzigt, schafft man solche Distanzen nie! Bei Krampnitz erreichen wir den westlichsten Punkt der Strecke.
Über eine kleine Landstraße erreichen wir den Schlosspark von Sacrow. Am Schloss Sacrow gibt es wieder hervorragende Verpflegung und endlich DropBag Nummer 2, mit frischen Laufschuhen. Die Turnschuhe, die ich jetzt ausziehe, hatte ich nun auch schon 90 km und über 12 Stunden an den Füßen. Hier stehen auch wieder Inge und Manfred, Manfred fängt hervorragende Fotos ein. Die vorgeschriebene Nachtausrüstung, Warnweste und Stirnlampe, packe ich erst mal in den Laufrucksack, noch ist es hell genug.
Nun geht es für mich mutterseelenallein weiter. Immer mal wieder wechselnde Mitläufer, die in einem ähnlichen Tempo auf der Strecke sind, gelegentlich schnellere Staffelläufer, die mich überholen.
Insgesamt laufen die kommenden 20 km sehr gut und ich bin deutlich schneller als geplant und gedacht unterwegs.
Aber, bei Kilometer 97 erst mal DER Verpflegungspunkt - VP15 - „Pagel&Friends“!
Dort gibt es alles an Essen und Trinken, was das Läuferherz begehrt. Vor einem sehr schönen und gepflegten Familienhaus, in der Garageneinfahrt und unter dem riesigen Carport ist ein tolles Buffet aufgebaut, Helfer lesen einem jeden Wunsch von den Augen ab. Vor dem Haus, auf der Straße, ist eine Lautsprecheranlage aufgebaut, jeder Läufer wird begrüßt und eingewiesen. Auf der Bierbank sitze ich mit meinem lauwarmen Nudelsalat, der sehr gut tut, zwischen Esther und Kay Giese. Esther ist am
zittern und hat Gänsehaut am ganzen Körper. Ihr war der Tag zu warm. Sie scheint aber eine erfahrene Läuferin zu sein und weiß was sie tut. Ins Ziel wird sie auch noch in unter 24 Stunden kommen. Kay ist auch nur am stöhnen. Er ist auf dieser Strecke eine Legende, der einzig verbliebene All-Time-Finisher, der Läufer, der bisher alle neun veranstalteten Mauerwegläufe ins Ziel gebracht hat. Er startet vor mir bei Pagels, irgendwann laufe ich zu ihm auf, begleite ihn ein Stück, laufe dann aber weiter. Auch Kay wird noch in unter 24 Stunden ins Ziel kommen. Ich begrüße noch Katrin und Karsten, die gerade bei Pagels ankommen, bevor ich aufbreche.
Zu Pagels fällt mir dann noch ein, am Sonntag bei der Siegerehrung erzählte ein Mitläufer: „Nach Berlin kann ich wohl nicht mehr kommen, ich habe gestern bei Pagels in die Einfahrt gekotzt!“
100 km sind nach 13:30h erreicht. Ich weiß, bei so einem Lauf sind 100 km ziemlich genau die Hälfte von 160 km. Auch, wenn jeder der rechnen kann, hier widerspricht, - ist so. Hier geht es nicht ums Rechnen, sondern um gefühlte Wahrheiten.
Nächstes Etappenziel ist für mich der VP 17 an der Falkenseer Chaussee, bei Kilometer 110. Wie schon beschrieben, lief es bis hierhin wirklich erstaunlich gut.
Ich bin natürlich immer am rechnen, ob die sub 24 noch möglich sind. Bisher 110 km in knapp 15 Stunden, also noch gut 9 Stunden für die verbleibenden 50 km.
Als erfahrener Ultraläufer weiß ich selbstverständlich: „Hinten ist die Henne fett!“
Da kommt noch was! Trotz des vielen Rechnens, immer wieder Zweifel.
Am VP17 setze ich mich auf einen Klapphocker und lasse mich bedienen. Aufstehen und zum Verpflegungstisch gehen ist nicht mehr möglich. Da es mittlerweile kurz vor 21:00 Uhr ist und es schon deutlich dämmert, friemel ich meine Nachtausrüstung aus dem Rucksack, streife die Warnweste über, ziehe darüber wieder den Laufrucksack und setze die Stirnlampe auf den Kopf. Ich merke, die Kraft ist raus, jetzt wird es richtig anstrengend. Ab jetzt merke ich auch, dass es deutlich kühler wird, aber die Warnweste soll erst mal reichen.
Ich breche auf und quere die Falkenseer Chaussee, wieder eine große Freude, von rechts kommt meine Tochter Helena auf dem Drahtesel meiner Schwester angeradelt. Unterhaltung, Abwechslung, Privatverpflegung, Gesprächspartnerin, Wachhalterin und eine Musikbox, alles im Gepäck!
Irgendwo muss ich es unterbringen. Ich weiß nicht wo. Es ist überall, immer wieder. Märkischer Sand. Birkenwälder, Kiefernwälder Birkenwälder, Kiefernwälder, Birkenwälder, märkischer Sand, immer wieder!
Das nächste Ziel in meinem Kopf ist Kilometer 119. Ich weiß nicht was da ist. Aber ich weiß, ab da ist es nur noch Marathon. Und das kann ich. Bin ich schon weit über 300 mal gelaufen. Wenn ich da erst mal bin, klappt das. Das Rennen findet im Kopf statt!
Nach einer kurzen Einweisung und dem Austausch von Neuigkeiten wird der Lautsprecher aktiviert und Musik knallt uns um die Ohren. Erst mal darf ich Musik aussuchen, gerne Hard+Heavy, „Killing In The Name Of“!
Ein Smoothie, den Helena aus ihrem Rucksack zaubert, tut gut!
Jetzt nur noch Marathon! 16 Stunden 20 Minuten sind um, D.h., noch 7 Stunden 40 Minuten für die letzten gut 42 km. Normal brauche ich dafür so vier bis viereinhalb Stunden. Heute bin ich froh, wenn ich das dann in den verbleibenden 7 Stunden 40 Minuten schaffe.
Nun kommt bei mir auch folgendes Problem dazu. Mein Körper sagt mir: „Ich brauche was, gib mir was, Energie, Flüssigkeit, ey, pack ordentlich was rein, iss was, trink was!“ Wobei mein Magen ganz klar und ganz deutlich sagt: „Kollege, willst du mich verarschen, ich hab heute schon 10-12 l Flüssigkeit und bestimmt 8000
kcal verarbeitet. Jetzt ist Feierabend. Da kommt mir nichts mehr rein. Wenn doch, dann geht das aber sofort und auf dem gleichen Weg wieder raus!“
Also? Wer ist der Chef? Körper, Gehirn oder Magen?
Helena zwingt mich dann dazu, regelmäßig zu essen und zu trinken - und es bleibt auch alles drin.
Jetzt wird Musik gespielt die einen Bezug zu Berlin hat. Wir hören Westerland mit dem Wannsee von den Ärzten natürlich Peter Fox, Alles Neu und Schwarz zu Blau!
Der Veranstalter schreibt: „Beim Mauerweglauf geht es aber immer um viel mehr als um diesen Wettkampf ganz vorne. Es geht um das
Überwinden von den eigenen Grenzen; es geht darum, etwas zu schaffen, was unmöglich scheint.“
Und genau an dem Punkt bin ich jetzt auch. Die Kälte der Nacht macht mir zunehmend zu schaffen. In der Stadt wird es noch angenehm warm sein, weil die aufgeheizten Straßen und Häuser die Wärme Nachts noch abgeben, hier draußen im Wald und dicht am Wasser, ist es empfindlich kühl.
An den Verpflegungsstellen kann ich jetzt vorbei gehen und komme so aus meinem Trott nicht mehr hinaus. Alles an Essen und Trinken was ich noch runter bekomme, reicht Helena mir an.
Ich würde so gerne noch mal eine kleine Pause machen, aber Helena verbietet mir, mich hinzusetzen. Ich weiß nicht genau, ob sie das macht, weil sie die Faxen dicke hat und schnell nach Hause will oder weil sie ganz genau weiß, dass das nicht gut für mich ist.
Da Helena bei dem langsamen Radeln, gleichzeitig ihr Telefon bedienen kann, verfolgen wir über die Tracking Funktion auf der Webseite, im Live Modus, den Stand befreundeter Läufer. Ultra-Meier, der Stunden vor mir in sub 20 ins Ziel kommt, beeindruckt mich am meisten. Wir sehen, das Katrin und Karsten oft mit uns in einem Slot sind, sie können also nicht sehr weit hinter uns sein.
Kilometer 128, wieder ein Etappenziel, VP20 oder auch im Wechselpunkt Nr3 beim Ruderclub Oberhavel. Hier gibt es wieder einen
Dropbag und damit für mich neue Laufschuhe. Das tut den Füßen sehr gut. Hier erlaubt mir meine Tochter auch mich kurz hinzusetzen. Essen am Platz. Dann geht’s auch schnell wieder weiter über die Havelbrücke, an Heiligensee und Frohnau vorbei, zum nördlichstem Punkt der Strecke bei der Ortschaft Hohen Neuendorf.
Weiter straight Richtung Süden, dem Ziel entgegen. Die VPs sind nun dichter getaktet. Ich kann glücklicherweise immer weitergehen, Essen und Getränke werden mir angereicht. Meist geht es hier durch einen breiten Grünstreifen mitten durch die Stadt, gegen Ende auch durch Wohnbebauung und an zwei S-Bahn Höfen vorbei. Einen queren wir über eine lange Rampe. Und dann kommen wir auf das Sportpark Gelände, es kann nicht mehr weit sein. Ordner weisen uns ein. Mein Mitläufer schicke ich 100 m vor, ich möchte den Zieleinlauf für mich alleine haben. Ich biete auf die Tartanbahn die wunderschön mit runden bunten Leuchten illuminiert ist. Helena ist vorher irgendwann abgebogen und erwartet mich im Ziel!
Ich bin so stolz, dass ich das geschafft hab.

Im Nachhinein fand ich am schlimmsten, dass ich so fertig war, dass ich mich gar nicht mehr richtig freuen konnte, über das, was ich geschafft habe!

Mittlerweile sind auch Karsten und Katrin ins Ziel getorkelt. Karsten spricht laut und deutlich, mit klarer und lauter Stimme. Katrin liegt in Embryo Stellung auf einer Bierbank. So fertig!
Ich drücke im Telefon die Wahlwiederholung, die Taxi Nummer die mich hingefahren hat. Ich fange an zu sprechen, sage meinen Namen,kann nicht weiter sprechen, fange an zu heulen, ich weiß nicht warum. So fertig. Das (ein Taxi zu rufen) ist zu viel für mich. Helena übernimmt souverän das Telefonat und bestellt das Fahrzeug vor den Jahn Sportpark. Die Ansage ist, in 4 Minuten ist der Wagen am Eingang, der wartet nicht, entweder du bist da oder er fährt weiter. (Berlin halt). Aber, der Eingang ist bestimmt 500 m entfernt. Ich muss unbedingt sofort in die Wohnung meiner Schwester. Ich raffe alles zusammen, versuche los zu stürmen, so schnell es geht, was sehr relativ ist. Karsten ruft: „Stulle, komm gut nach Hause!“ Vom Merchandisestand kommt, „Du bist Stulle? Ich kenne dich vom Christoph Wurm.“ Ich kann leider nur erwidern: „Ich muss das Taxi kriegen, unbedingt!“
Der Taxifahrer will leider nichts von meinen Heldengeschichten hören, ich hätte so gern erzähltest, was ich
Tolles gemacht habe! Ich schleppe mich die Treppe hoch, überlege, duschen oder nicht duschen, Zähneputzen ist gesetzt. Gottseidank dusche ich! Ich weiß nicht, wie spät es ist, wahrscheinlich so gegen sieben. Gegen elf wache ich auf, alles tut schon lange nicht mehr so weh, wie vor dem Einschlafen. Nach einem guten und reichlichen Frühstück und dem Erzählen der Heldentaten geht’s mit dem Rad wieder zum Alex, zur Siegerehrung.
Die habe ich 2016, als ich schon mal da war, wesentlich emotionaler empfunden. Die ganze Zeit lief ‚Another Brick In The Wall, Part2, im Hintergrund - in Dauerschleife, jeder Finisher wurde einzeln auf die Bühne gerufen. Dieses Jahr, ein paar Reden, Medaillen und fertig. War auch okay, aber keine Gänsehaut.
Nach der Siegerehrung durfte ich mich neben Manfred auf die Rückbank setzen und Inge hat uns sicher nach Hamburg chauffiert. Noch einmal ein großes Dankeschön dafür. Am Montagmorgen bin ich selbstverständlich pünktlich um acht auf der Arbeit!

Gestartete Einzelläufer: 382,
Davon 303 Männer und 79 Frauen.
Von diesen sind ins Ziel gekommen: 274.
D.h. 71,7 % der Einzelläufer sind ins Ziel gekommen, 28,3 % stehen mit DNF in der Liste.

Fazit: Eine großartige Veranstaltung, bestens vorbereitet, durchgeführt, nachbereitet und organisiert. Alles freundlich und kompetent, professionell. Ich kann jedem Läufer nur empfehlen, hier wenigstens einmal dabei gewesen zu sein.

Ein riesiges Dankeschön an die ausrichtende LG Mauerweg und alle zusätzlichen Helfer, die an der Strecke, im Startbereich und auch an all die, die im Hintergrund gearbeitet haben. Chapeau, ihr habt einen guten Job gemacht! Immer gerne wieder!

Text: der Stulle
Bilder: der Stulle, Helena
und Manfred