Von Günter Schmidt

Warum schreibe ich eigentlich einen Laufbericht über den Wermsdorf Marathon? Das wird der Veranstaltung nicht gerecht. Bei aller Bescheidenheit, aber dieser Lauf gehört in die Marathon-Geschichtsbücher. Schon bei der ersten Auflage 2019 gab es einen Weltrekord. Nein, wir hatten keine Elite-Läufer eingekauft und Zeiten unter zwei Stunden gibt die Strecke leider nicht her. Aber hat jemand von euch schon mal an einem Marathon teilgenommen, bei dem der erste Läufer nach 8:55 Stunden den Zielstrich überquerte?

Nun denkt ihr hoffentlich nicht, was sind das da in Wermsdorf für Luschen? Nein, wir haben Läufer dabei, die an der 3-Stunden-Marke kratzen.

Dieser Weltrekord hatte andere Ursachen. Die Veranstalter hatten sich überlegt, dass so ein Marathon doch eigentlich eine einseitige bis langweilige Sache ist, bei der man stumpfsinnig vor sich hin läuft, unterbrochen von Esspausen, und haben sich gesagt, das müssen wir ändern. Wir müssen Marathon revolutionieren, zu einer Art Konglomerat aus Laufen, Kultur und Geschichte machen. Ja, zu jeder Sehenswürdigkeit an der Strecke gibt es eine Erläuterung!

Das Konzept ist aufgegangen. Zur fünften Ausgabe der Veranstaltung trafen sich viele Läufer. Um genau zu sein, mehr als zur ersten Auflage. Damals waren es 19, in diesem Jahr sogar schon 20! Mehr wollen die Organisatoren auch nicht, man will nicht zur Konkurrenz von Frankfurt oder Berlin werden. Vielleicht aber auch nur den Organisationsaufwand in Grenzen halten.

Treffpunkt ist an der neuen Turnhalle. Und da muss ich mich gleich beim Bürgermeister Matthias Müller und den Leuten bedanken, die uns jedes Jahr diese Halle auf- und zuschließen und damit dafür sorgen, dass man nach einem so kleinen Lauf wie in Wermsdorf auch duschen kann. (Foto 1)

Kurz vor 9 Uhr geht es los. Nicht mit dem Marathon, sondern mit dem Wandern zum Start. So schön die Turnhalle auch ist, ein so bedeutender Marathon wie der in Wermsdorf muss an einem Ort gestartet werden, der zur Bedeutung des Laufes passt. Am besten in einem Schloss. Manche große Stadt wäre froh, ein Schloss zu besitzen. Wermsdorf hat zwei. Wir starten im aus dem 17. Jahrhundert stammenden Alten Jagdschloss. Der Ort ist würdig für unseren Lauf. Hier trafen sich einst August der Starke und Zar Peter der Große. Leider nicht zum Marathon, sondern zum Saufen. (Foto 2)

Das erste Stück des Laufes führt aus dem Dorf heraus. Vorbei an einem Teich, nicht groß, aber alles andere als gewöhnlich. Hier habe ich Schwimmen gelernt. Diese wichtige Information aus dem vorigen Jahrhundert erfahren die Läufer jedoch nicht. Denn als sie den schönen am Waldrand gelegenen Teich passieren, müssen Frank Dietrich und ich das Läuferfeld verlassen. Für unsere Fahrräder ist der sogenannte Collmer Fußweg nicht geeignet. Für die Läufer ist es der Trailabschnitt dieses Marathons, im nächsten Jahr sollte man diesen vielleicht ausplanen. (Foto 3)

Wir treffen uns aber kurz danach auf festen Untergrund wieder und befinden uns damit auf dem Elbe-Mulde-Radweg und kommen zu einer wichtigen Stelle, an der es etwas zu erzählen gibt, dem Zinkernagel-Denkmal. Das Denkmal steht etwa 20 Meter neben dem Weg. Das Verpflegungsauto ist in etwa 200 Meter Entfernung zu sehen. Wie sich Läufer in so einer Situation entscheiden, wisst ihr. Abgewandelt von Brecht würde ich sagen: Erst kommt das Fressen, dann die Kultur ...

Der neben mir fahrende Frank beäugt den Wald rechts und links vom Radweg und stellt fest: "So ein grüner Wald, bei euch gibt es wohl gar keinen Klimawandel?" Doch, es gab aber auch besagten Forstmann Zinkernagel, der schon vor über 150 Jahren einen Mischwald schuf, den man heute als modern bezeichnen würde.

Irgendwann endet der Wald, auf beiden Seiten des Weges folgen große Felder. Das Gelände war bis jetzt ziemlich eben, bis es noch besser wird: Es geht bergab ins Döllnitztal und damit ins Bankenzentrum Mügeln. Jetzt denkt ihr bestimmt, als nächstes schreibt er, dass er die Hochhaussilhouette von Mügeln sieht. Nein, wie ihr schon gemerkt habt, Übertreibungen sind mir fremd ...

Aber kurz vor dem Ort erreichen wir die erste Bank, die Kaolinbank. Mügeln hat über 50 Banken, oder ist vielleicht die Bezeichnung Bänke besser? Eine tolle Idee der Mügelner, Motivbänke zu schaffen. So schufen Privatpersonen und Unternehmer beispielsweise die Einheitsbank, die Trabbibank und besagte Kaolinbank. Sie dient uns als Verpflegungspunkt und das muss man sich so vorstellen: Die Läufer sitzen in einer gekippten, zu einer Bank verwandelten Lore mit Blick auf den weitläufigen Tagebau und stärken sich für die noch vor ihnen liegenden etwa 30 Kilometer. (Foto 4)

Mügeln hat aber mehr zu bieten als Banken. Zum Beispiel ein Schloss. Ja, nur eins ... Aber so unbedeutend war Schloss Ruhetal nun auch nicht. Als Bischofssitz erbaut, finde ich sehr interessant, dass sich im 15. Jahrhundert um das Schloss ein Weinbaugebiet entwickelte. Das daraus entstandene alkoholische Getränk wurde bis Wermsdorf exportiert. Nach etwa hundert Jahren hat man den Weinanbau eingestellt, ich weiß nicht warum, aber vielleicht hat die saure Brühe nicht geschmeckt. (Foto 5)

Es gibt auch einen Bahnhof. Ich weiß, den gibt es bei euch auch. Aber der in Mügeln war vor hundert Jahren mit immerhin 35 Gleisen der größte Kleinbahnbahnhof Europas. Mythos oder wahr, egal.

Mein früherer Lauffreund Uwe Gerstmann ist am Verpflegungspunkt "Größter Bahnhof Europas" der schnellste und kaum gegessen und getrunken, ist er schon wieder auf der Strecke. Und ich mit dem Rad hinterher, um ihm die Strecke zu zeigen. Aber es zeigt sich, dass hätte ich mir sparen können. Er kennt sich hier besser aus als ich. Aber woher seine Hast, will er als erster Wermsdorf erreichen? Nein, "Adler-Uwe" (wie er seit einem Greifvogelangriff während eines Trainingslaufes, der im Krankenhaus endete, genannt wird – das Fernsehen berichtete) kann nicht mehr, schwächelt und will sich dadurch die Zeit besser einteilen. (Foto 6)

Apropos Schwächeln. Ich erinnere mich an Uwe Anger, er hat im vergangenen Jahr auch geschwächelt. Dieses Jahr ist er viel besser. Als ich mal neben ihm fahre, stelle ich ihm die mich sehr interessierende Frage: "Du hast wohl in diesem Jahr mehr trainiert?" Seine Antwort: "Nee, gar nicht". Genau, Trainieren wird oft überbewertet!

Der nächste Ort ist Schweta. Ein kleines Dorf mit einem großen Park. Als wir die Strecke vorher abgefahren sind, stand auf einer Tafel: Elisabeth James schuf 1819 diesen Park. Aber wer war sie? Nicht einmal Google weiß es. Was erzähle ich denn da den Läufern? Ganz einfach, ich gehe zur Vogelkunde über. Ich erzähle über die im Park lebenden Aaskrähen, Mönchsgrasmücken und Zilp Zalpe und meine Hoffnung ist, dass das auch jemanden interessiert. (Foto 7)

Nächster Verpflegungspunkt ist Schloss Deuben. Bei der Vielzahl der Schlösser in dieser Gegend könnte man glauben, die Leute haben hier früher alle in Schlössern gewohnt. Das Schloss Deuben ist jetzt in Privatbesitz und ein Verein hilft bei der Erhaltung.

Andreas Gäbler möchte, dass ich einige Worte zu diesem Schloss erzähle. Eh, ich bin aus Wermsdorf! Ich kann stundenlang über das Schloss Hubertusburg erzählen, dem größten barocken Jagdschloss Europas. Aber Schloss Deuben? Ich muss zugeben, auch ein so kluger Mensch wie ich hat Bildungslücken ...

Adler-Uwe hat es wieder sehr eilig. Als guter Kumpel mache ich ihm einen Vorschlag: Wenn du nicht mehr kannst, ich kenne eine Abkürzung ... Bevor ich das Wort Abkürzung überhaupt nur ausgesprochen habe, ist er schon um die Ecke – auf der offiziellen Strecke. Ich hätte es wissen müssen, Uwe hat Charakter. Der würde lieber umfallen als betrügen.

Ich nutze die Abkürzung, da die eigentliche Strecke fußgängerisch nicht schlecht, aber für mein Rad nicht passierbar ist. Am nächsten Höhepunkt warte ich. Eine halbe Stunde. Oh Uwe, du hättest einige Kilometer gespart. Es ist nicht immer von Vorteil, wenn man Charakter hat.

Mir wurde es beim Warten nicht langweilig. Ich habe Vögel beobachtet. Diesmal aber keine Mönchsgrasmücken oder Zilp Zalpe, nein, in Thalheim sind die Vögel größer - wir sind in einer Straußenfarm. Mein Hinweis an die ankommende Läuferschar: Der Hofladen schließt um 15 Uhr. Interessiert aber mal wieder niemanden ... (Foto 8)

Als ich als letzter aufbreche, ist nur noch Jens Körner da. Drei Frauen an einem Unterstand haben es ihm angetan. Die Frauen erzählen mir, sie hätten gerade einen Strauß geschlachtet. Und genau so sehen sie aus. Ihre weißen Ganzkörperanzüge sind von oben bis unten blutbefleckt. Oder ist es nur rote Farbe? Oder haben sie jemanden umgebracht? Sollte ich mal einen Krimi schreiben, ich weiß, wie er heißen würde: Blutbad auf der Straußenfarm. 

Nun wird es aber höchste Zeit, mal etwas zum Verpflegungsfahrzeug zu schreiben. Bei jedem Marathon bisher wurde es von Sonnhild und Reiner Mende betreut. Sie haben keine Verbindung zu Wermsdorf und sind nie Marathon gelaufen. Aber sie helfen uns jedes Jahr. Ohne sie würde beim Wermsdorf Marathon etwas fehlen. Oder anders gesagt: Ein Marathon ist nur so gut wie seine Helfer! (Foto 9)

Am nächsten Verpflegungspunkt haben aber Sonnhild und Reiner frei. Anne Voigtländer, eine Mitläuferin, hat sich gesagt: Wenn ihr schon bei mir in Oschatz vorbeilauft, könnt ihr bei mir auch einkehren. Der Tisch vor dem Haus ist reichlich gedeckt, die Familie eingespannt, das Bananenbrot schmeckt mir besonders gut. Warum gibt es den Wermsdorf Marathon nur einmal im Jahr?

Was machen Läufer, wenn sie an einer Eisdiele vorbeikommen? Ganz klar, sie holen sich eine Kugel Eis, manche zwei, manche drei. Bei einem Marathon muss man sich auch mal etwas gönnen ... (Foto 10)

Dabei hält sich die ganz große Schinderei in diesem Jahr in Grenzen. Es gab auch schon einen Aufstieg auf den Turm der St.-Aegidien-Kirche. Wie viele Höhenmeter das sind, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß es nur in der Maßeinheit Stufen, das waren fast 200. Jedes Jahr braucht man die nicht ...

Obwohl es in Oschatz auch einige Sehenswürdigkeiten gibt, geht es weiter. Nächstes Ziel: das Collm und der Collm, also in das Dorf Collm und auf den Collmberg. Der Collm ist mit 314 Metern Höhe die höchste Erhebung der Leipziger Tieflandsbucht. In der mir eigenen Bescheidenheit habe ich manchmal gesagt, der Collm ist die höchste Erhebung zwischen den Alpen und dem Himalaya. Aber ein Geograph hat mich da mal aufgeklärt. Das stimme nicht, es ist aber die höchste Erhebung zwischen Harz und Ural. Gut, damit kann ich leben. (Foto 11)

Jeder Läufer kennt das: Wenn ein Berg in der Nähe ist, geht es meist bergauf. Das trifft jetzt auf uns zu. Uwe kann gerade noch Bescheid sagen, die Läufer vor ihm sollen vor Collm warten. Die Läufer vor ihm, das sind eigentlich alle. Uwe pfeifft auf dem letzten Loch. Dabei war er ein sehr guter Läufer – bis er an Corona erkrankte ...

Die Anstiege vor Collm haben es in sich. Ich würde sagen, so um die 20 Prozent Steigung sind zu bewältigen. Ich muss da mal mit Cheforganisator Andreas Gäbler reden. Nächstes Jahr machen wir eine Bergwertung!

In diesem Jahr hätte die Tanja Dietrich gewonnen. Sie war zwar nicht die Erste auf dem Berg, aber was sie geschafft hat. Männer, glaubt mir, Frauen sind das starke Geschlecht!

Ich gebe es zu: Am Berg bin ich mit meinem Trike nicht der Schnellste, es wiegt schließlich fast 40 Kilo. Als Tanja am Fuße des Berges nach meiner Sitzlehne greift, denke ich, das wird nichts. Ich habe mit mir zu tun, da kann ich nicht auch noch sie ziehen. Aber dann merke ich, mein Gott, die schiebt! Und das dann auch noch etwa 100 Meter, bis der Berg endet. Nur mal so nebenbei erwähnt, sie hat schon über 30 Kilometer hinter sich. Danke, Tanja. So schnell war ich noch nie auf diesem Berg.

Nun wieder zu Uwe. Wie er sich das gewünscht hat, warten alle vor Collm. Ich schreibe jetzt mal: Er hasst Unordnung. Er legt Wert darauf, dass alle in einer Gruppe durch den Ort laufen. Ein namentlich nicht genannt werden wollender Mitläufer sieht das anders: Uwe wohnt hier, da will er natürlich nicht als Letzter durch den Ort laufen. Nein, so etwas würde ich nie denken ... (Foto 12)

Als die Gruppe in Collm einläuft, ist die Stimmung am Straßenrand am kochen, wie bei der Tour de France im Zielbereich. Die Leute klatschen, Laola-Wellen, "Uwe, Uwe"-Rufe. Einziger Unterschied: Wir sind noch nicht im Zielbereich. Und um bei der Wahrheit zu bleiben: Es sind nur vier Leute, die zufällig da stehen und Uwe kennen.

Wichtig ist bei einem Marathon, dass man alles dabei hat. Einen Küster, einen Kantor. Gut, bei jedem Marathon hat man so etwas nicht, beim Wermsdorf Marathon ist das aber normal.

Also schließt Küster Uwe Gerstmann die Kirche auf, Läufer und Kantor Christian Schiel setzt sich an die Orgel und der Rest der Läufergruppe hört gespannt zu. So ist Marathon! (Foto 13)

Bei dem Konzert konnte sich jeder etwas ausruhen. Das ist gut, denn danach geht es auf den höchsten Berg zwischen Harz und und Ural. Das allein ist anstrengend genug. Aber auf dem Berg steht dann auch noch so ein blöder Turm mit 102 Stufen. Aber der Ausblick entschädigt. Manchmal kann man den Fichtelberg sehen, heute natürlich nicht. Aber man sieht schon Wermsdorf, den Zielort mit dem größten barocken Jagdschloss der Welt ... (Foto 14)

Bis dahin geht es logischerweise meist bergab, größtenteils durch Wald und vorbei an einem idyllisch gelegenen See. Sein Name sagt alles: Silbersee.

Und dann ist es erreicht, Schloss Hubertusburg, das größte barocke Jagdschloss des Universums. Bei meinen Erzählungen wird es heute immer bedeutender. Man verzeiht mir das. Ein klein wenig Lokalpatriotismus ist erlaubt. Fakt ist, es war groß und bedeutend. Der Prunk war einst mit Versaille vergleichbar, Schloss Moritzbug bei Dresden könnte man im Innenhof des Hauptgebäudes verstecken. Hier wurde nach dem Siebenjährigen Krieg der Frieden geschlossen. Was wäre heute, hätte Preußenkönig Friedrich der Große das Schloss nach seinem Sieg im Siebenjährigen Krieg nicht mit preußiger Gewissenhaftigkeit geplündert? (Foto 15)

Wir sind aber nicht nachtragend, am Wermsdorf Marathon dürfen auch Läufer aus Preußen teilnehmen. Wir freuen uns sogar, dass Jana und Micha Bieler aus Berlin immer mal wieder dabei sind.

In unserem zweiten Schloss endet der Marathon, dort wo alle losgelaufen sind. Und Uwe Anger weiß es ganz genau: Reine Laufzeit 5:15:41 Stunden, Gesamtzeit 7:27:01.

An der Turnhalle übergibt Cheforganisator Andreas Gäbler die Medaillen. Er erhält viele Worte des Dankes, zu recht. (Foto 16)

Nur Uwe Gerstmann ist traurig. Es war sein letzter Marathon!

Am Tag darauf treffe ich ihn wieder. Einen Marathon wird er noch laufen, im nächsten Jahr in Wermsdorf. Da wird er wohl einige von diesem Jahr wiedertreffen ... (Foto 17)

 

Hinweis von Jana Bieler: Wer sich die bewegten Bilder auf YouTube anschauen möchte, kann auf diesen Link klicken.