Taiwan, fast exakt so groß wie Baden-Württemberg, ist eine Insel auf welcher 23,3 Millionen Menschen und davon fast 3 Millionen in der Hauptstadt Taipei leben. Bei der Durchsicht der Liste der taiwanesischen Laufveranstaltungen für das Jahr 2016 ergab sich folgende Anzahl an Läufen über die klassische Distanz oder darüber hinaus: 86 Marathonläufe und 84 Ultras, vom „Drug Free Marathon“ bis hin zum „Ultimate Marathon Cross the Central Cordillera“ über 246 Kilometer bei welchem an der Westküste auf Meereshöhe gestartet wird und dann nach der Querung eines Berges mit einer Höhe von 3.275 Metern ü.NN bis zur Ostküste gelaufen wird. Taiwan bietet mehr als 100 Berge mit einer Höhe von über 3.000 Metern. Sollte es tatsächlich so sein, dass es, so wie  Buddhisten davon überzeugt sind, eine Reinkarnation gibt, so bleibt die Hoffnung auf ein späteres Läuferleben in Taiwan führen zu dürfen. An der Anzahl ist auch ersichtlich, welches Potenzial im Marathon steckt da die meisten der durchgezählten Marathonläufe bereits bei Jahresbeginn 2016 geschlossen bzw. ausgebucht waren.

Beim Marathon, über welchen wie folgt berichtet werden soll, war es ähnlich. Es standen 4.000 Startplätze zur Verfügung und der Marathon war sold out. Ich hatte mich bereits nach dem Singapur-Marathon für den Lauf entschieden, da ich mit der dortigen Organisation sehr zufrieden war und auch Taipei die Standard Chartered Bank als Sponsor aufwies. Diese Assoziation erwies sich als richtig.


Eine Woche nach dem Cebu City Marathon welcher bei großer Hitze ausgetragen wurde laß ich dann jedoch einen Bericht über die Wetterverhältnisse des Hong Kong Marathons der mich aufhorchen ließ. Da war von Läufern die Rede, welche in Hong Kong mit Regenschirmen gelaufen waren. Nicht als Sonnenschutz sondern um den starken Regen abwehren zu können. Also beobachtete ich die Wettervorhersage genau. So wusste ich frühzeitig, dass für den Sonntag auch für Taiwan geschichtsträchtig  niedrige Temperaturen vorausgesagt waren. Nach dem Marathon berichtete die Taipei Times, dass in der Nacht zwischen Samstag und Sonntag in Taipei 36 Personen gestorben sind. Sie seien in Innenräumen aufgefunden worden. Als Ursache war Hypothermie, also Unterkühlung, angegeben. Es waren Tage, auf welche Taipei nicht vorbereitet war. Umso erstaunlicher ist es, dass der Marathon überhaupt ausgetragen wurde. Im Handgepäck führte ich also sicherheitshalber meine Regenkleidung, welche mir schon in Nepal auf der Annapurna-Umrundung beste Dienste geleistet hatte.

Schon der Flug war ein Erlebnis, welches singulär noch akzeptabel war. Dies sind ja beste Aussichten, dachte ich mir, als das Flugzeug, sich Taiwan nähernd, eine Gewitterfront durchquerte. Ich beobachtete, dass sich Paare die Hände hielten und konzentrierte mich dann auf meine Kamera. Eine Strategie der gelenkten Aufmerksamkeit, welche mir schon öfter in solchen Situationen geholfen hat. Eine Broschüre im Netz vor meinem Sitz mit dem Cover „Last Chance for Winter“, in welchem über Skigebiete in Südkorea informiert wurde, war dann auch fast programmatisch für die Tage in Taipei, welche mich erwarteten.

Auf dem Flughafen in Taipei ging ich zum Schalter der Immigration und als die Diensthabende meinen Reisepass sah, sagte sie „Guten Tag“. Ich war perplex denn damit hatte ich nicht gerechnet. Danach bewahrheitete sich die in vielen Berichten enthaltene Information, dass es in Taiwan schwierig werden mich in Englisch zu verständigen.

Ein Marathon ist für mich gerade dann besonders interessant, wenn der Boden auf dem gelaufen wird, eine bewegte Geschichte aufweist und am Beispiel dieser Marathonreise, bis in die aktuelle Zeit seine konfliktträchtigen Dimensionen im sogenannten „Taiwan-Konflikt“ entfaltet.

Taiwan wurde von den Portugiesen entdeckt und früher Formosa genannt. Heute wird Taiwan als auch als Republik China bezeichnet. Die Insel war von 1895 bis 1945 eine Kolonie Japans. Vor 1945 nicht zum Territorium Chinas gehörend veränderte sich die Lage, als sich Behörden der Nationalen Volkspartei Chinas, der Kuomintang, angesichts der sich abzeichnenden Niederlage im Rahmen des chinesischen Bürgerkrieges vom Festland auf die Insel zurückzogen. Die Kuomintang, welche ab 1925 von Chiang Kai-shek angeführt wurden, hatten schon 1927 das Bündnis mit Mao Zedong aufgekündigt und etablierten auf Taiwan eine Einparteienherrschaft mit dem Nebeneffekt der Dezimierung ethnischer Vielfalt. Allerdings war im Kapitulationsvertrag festgeschrieben worden, dass Taiwan, rein theoretisch, von China aus verwaltet werden sollte. Die Kuomintang verhängten jedoch 1947 auf Taiwan das Kriegsrecht welches bis 1987 andauerte. Das Blockdenken während des Kalten Krieges führte dazu, dass Taiwan als Gründungsmitglied der UNO noch bis 1971 die alleinige chinesische Vertretung bei der UN inne hatte und diese dann aber an die Volksrepublik China abtreten musste. Danach nahmen die meisten Staaten diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China auf und seitdem unterhalten nur noch sehr wenige Staaten diplomatische Beziehungen zu Taiwan.
Noch 2008 erzielte die Kuomintang, welche eine dezente Annäherungspolitik an die Volksrepublik China verfolgte, bei den Parlamentswahlen eine Mehrheit von 71,7 % der Sitze. Doch nur 8 Tage vor dem Marathon änderte sich mit der Wahl der neuen Regierung das politische Lagebild. Denn am 16.01.2016 wurde Tsai Ing-wen von der Demokratischen Fortschrittspartei zur Präsidentin gewählt.

Vor dem Marathon gab es also nicht nur eine das Wetter betreffende Unsicherheit. Auch politisch war nicht klar, wie gerade die VR China reagieren würde, wenn die Demokratische Fortschrittspartei die Wahlen gewinnen würde da sich diese, im Gegensatz zur Kuomintang-Vorgängerregierung, sehr zurückhaltend gegenüber dem vorher bestehenden Annäherungskurs an Festlandchina ausgesprochen hatte.

Die Tage vor dem Lauf, der von der „Chinese Taipei Road Running Association“ organisiert wurde und seit 2013 der 10. von der Standard Chartered Bank gesponserte Marathon ist, nutzte ich, um so viele Eindrücke wie möglich zu erhalten. Idealerweise war auch in Taipei, wie schon in Singapur, ein Dreitagesticket für die Benutzung des MRT erhältlich.

Zuerst fuhr ich zum Taipei 101, dem in der Stadt weithin sichtbaren und nach dem One World Trade Center in New York mit 508 Metern zweithöchsten BÜROgebäude der Welt in welchem auch die Deutsche Auslandsvertretung ihren Sitz hat. Der Taipei 101-Tower ist  59 Meter höher als das Empire State Building. Die Baukosten betrugen 1,6 Milliarden Euro.
Das Gebäude hat 101 Stockwerke. Mit dem nach dem Shanghai Tower zweitschnellsten Fahrstuhl der Welt gelangte ich mit einer Geschwindigkeit von 60,6 km/h in nur 37 Sekunden bis zur 89. Etage. So wird wohl auch Felix Baumgartner seinen Weg nach oben gefunden haben. Rückwärts wählte er jedoch eine andere Variante denn er sprang am 13.12.2007 als erster Base Jumper ohne Genehmigung vom Gebäude.
Im Taipei 101 wird auch der jährlich stattfindende „Run Up Race“ ausgetragen. Den Streckenrekord bei den Frauen hält seit der ersten Austragung im Jahr 2005 Andrea Mayr aus Österreich welche 12'38''85 Minuten benötigte. Thomas Dold gewann dort mehrfach.
Oben gab es die Möglichkeit Postkarten zu schreiben und in einen der Briefkästen  einzuwerfen. Eine Ausstellung schönster Exponate aus Jade und Steinkorallen erwartet den Besucher. Erstmals sah ich Rainbow Jade. Diese Art von Jade habe ich nicht einmal in Burma betrachten können. Da Taiwan erdbeebengeplagt ist und die Spitze des Taipei 101 je nach Windgeschwindigkeit einer Schwankung von bis zu 1,50 Metern ausgesetzt ist, wurde zwischen dem 88. und dem 92. Stock eine 660 Tonnen schwere vergoldete und einen Durchmesser von 5,5 Metern umfassende Kugel, welche an armdicken Stahlseilen hängt, installiert. Gleichzeitig ist dieses faszinierende Objekt der weltweit größte und für die Öffentlichkeit zugängliche Schwingungstilger.
Nachdem ich die Startnummer abgeholt hatte besuchte ich noch einen der vielen  Nachtmärkte namens „Snake Alley“. Dort werden Schlangen zubereitet und ich begnügte mich mit einem Blick ins Terrarium in welchem sich eine weiße Boa befand. Es ist noch nicht so lange her als die Regierung Taiwans den Verkauf von zum Essen zubereiteten Katzen und Hunden untersagte. Am nächsten Tag fuhr ich zum sehenswerten Blumenmarkt. Der Jademarkt, gleich nebenan, war im Kontext zum Jademarkt in Mandalay keineswegs so ursprünglich. Dann besuchte ich uralte Tempel welche von modernen Shoppingmalls mit High-End-Produkten umgeben waren. Beeindruckend war der Longshan-Tempel (Drachenbergtempel), welcher 1738 von chinesischen Einwanderern errichtet wurde und sich auf einer Fläche von 1.600 Quadratmetern verteilt. So war auch mein Eindruck den ich in Taipei erhielt. Da zog der Weihrauch aus den Tempeln auf die Straße und daneben wurde auf einem Plakat für eine CD mit Musik Beethovens geworben. Da überquerte ein älterer Herr in stoischer Gelassenheit, ohne Socken und in Flipflops im Schneckentempo  die Straße und wurde von jungen Taiwanern im Sauseschritt überholt. Eine Hauptstadt, in welcher nur auf den ersten Blick scheinbar Gegensätzliches nebeneinander besteht. In Taipei ergänzen sich die Hochtechnisierung und die introspektive Entschleunigung in erweiternder und wohltuender Weise. Es prallen keine Welten aufeinander sondern beide Seiten dieser Hauptstadt machen Taipei als für Deutsche visafreies Reiseziel besonders interessant. Es gilt dort weniger das Entweder-Oder sondern das Sowohl-Als-Auch.

Der Starttag nahte und es wurde immer kälter. Der Besuch einer der unzähligen Garküchen, in denen wohlschmeckende Nudelsuppen und Dumplings zubereitet wurden, gab mir die nötige Energie, um am Sonntagmorgen gegen 04:00 Uhr gestärkt zum Präsidentenpalast zu gehen. Vorher hatte ich mir noch heißen Tee in eine Plasikflasche gefüllt die mir als Handwärmer diente. Trotz 4 Grad Celsius und Dauerregen gestaltete sich die Organisation perfekt. Im Startbereich traf ich Mike Cartwright der bei den Marathon Maniacs aktiv ist und den ich schon auf Borneo und Cebu traf. Er lief seinen 118. Marathon und er erzählte mir, dass ihm der Marathon in Düsseldorf sehr gefallen habe. Es war ein Bild für die Götter die viele Teilnehmer in Plastiktüten verhüllt zu sehen deren Köpfe teilweise mit Badehauben bedeckt waren. Und Götter, so glauben zumindest viele Menschen in Taiwan, gibt es derer Viele.

Pünktlich um 05:30 Uhr erfolgte der Start. Bis zum Kilometer 34 trotzte ich der Kälte doch danach musste ich meinem Anfangstempo Tribut zollen. Da waren wohl die Geister am Werke. Über die Handschuhe hatte ich mir noch Socken gezogen derer ich mich dann aber nach Durchnässung entledigte. Dies half nur kurzfristig und meine Finger konnte ich überhaupt nicht mehr fühlen. Trinkbecher konnte ich nur noch grob zwischen den Handballen halten und Bananenschalen schälte ich mit den Zähnen ab. Ein Teilnehmer versuchte, wahscheinlich vergebens, sich die Schnürsenkel zuzubinden. Zum Glück habe ich eine Kamera die sich auch bei solchen Verhältnissen aktivieren lässt.

Auf den letzten 8 Kilometern hörte zum Glück der Regen auf. Doch der Laufstil nicht weniger Teilnehmer, welche so wie ich versucht hatten der Kälte davonzulaufen,  transformierte sich zu einem intervallartigen Fortbewegen. Ich war froh, das Ziel nach 3:40:29 h erreicht zu erreichen. Für mich war interessant, dass ich 2 Wochen zuvor in Cebu bei 30 Grad eine Minute schneller war. Insgesamt 2.203 Teilnehmer erreichten das Ziel. Von einer höheren Drop-out-Rate ist demnach auszugehen.

Der Standard Chartered Marathon Taipei hat das Potenzial für einen schnellen Marathon. Die Startgebühr betrug umgerechnet 26,-- €. Lange Abschnitte ging es, zwei Brücken querend und dabei ca. 30 Höhenmeter überwindend, zuerst aus der City heraus und dann, viele Kilometer immer flach am Keelung-River, entlang. Trotz dessen, dass sich das Ziel weit entfernt vom Startplatz, unweit der Dazhi-Brücke befand und auch die Helfer sichtbar froren, war auch der Rücktransport zum Präsidentenpalast via Bustransfer hervorragend organisiert.